Dorn: Roman (German Edition)
Balkons. Über die Lichter des Palastes, die Straßen der Stadt bis hin zu den Osttoren. Die große Küstenstraße entlang, mitten durch die Sümpfe. Ein Glimmen war dort zu erkennen. Vereinzelte Irrlichter.
»Warum bist du gekommen?«, fragte sie schließlich. »Du hast so wenig Interesse an mir. Du überlässt es anderen, mit mir zu reden, du umgehst mich, wenn du kannst …«
»Auch das ist falsch«, sagte ich. »Aber ich will ehrlich sein: Ich empfinde Unsicherheit gegenüber den wenigen Elben, die ich bislang getroffen habe. Wir Menschen behandeln euch nicht gerecht. Einst haben wir dieses Land blutig von euch erstritten und euch nach Quainmar verbannt. Ich fühle also Schuld.
Hinzu kommt, dass ihr Elben ganz anders seid als wir Menschen. Ihr nehmt eure Umgebung anders war, seid weit naturverbundener als jeder menschliche Bauer, der jahrein jahraus sein Feld bestellt. Ihr bewertet vieles anders. Und ihr seid stolze Wesen.
Viele Menschen verstecken ihre Unbedarftheit euch gegenüber hinter Furcht, hinter Hass oder hinter beidem. Ich versuche neugierig zu sein, aber auch ich bin unsicher, weil ich euch nicht kenne.«
Lia sah mich an. Die Trauer in ihrem Blick konnte einem das Herz brechen, wenn man bloß hinsah.
»Deshalb bist du nicht gekommen.«
»Doch, auch. Ich möchte wissen, ob du einen Elben kennst, der Linus heißt.«
Sie wirbelte abrupt herum. Ihre Augen weiteten sich und sie fixierte mich, als wolle sie mich allein mit ihrem Blick festhalten. Einige Atemzüge vergingen, während sich der Schrecken auf ihrem Gesicht immer deutlicher abzeichnete. Die Spannung zwischen uns nahm beinahe feste Gestalt in der Luft an.
Dann wandte sie den Blick ab und ging zu einem Abstelltischchen neben ihrem Bett. Sie nahm ihren ledernen Rucksack hinunter und öffnete ihn.
Die Nollonin. Jene Kristallkugeln, gefüllt mit tiefster Nacht. Ich hatte die Gedanken an sie beinahe verdrängt. Erneut übten sie ihre merkwürdige Faszination auf mich aus. Diesmal widerstand ich ihr prompt. Wohl weil ich bereits wusste, was mich erwartete.
»Was …?«, wollte ich ansetzen, doch Lia schenkte mir einen Blick, unbarmherzig wie eine Königin aus Eis.
»Linus ist derjenige, der unsere Stimmen in die Nollonin gesperrt hat«, sagte sie. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Ich wusste nicht, dass er hier ist«, klagte sie. »Aber wenn er es wirklich ist, dann steht euch ein großes Unglück bevor!«
»Du meinst, Linus, der Berater von Serion und Mara von Gamar ist jemand, der die Stimmen eines ganzen Volkes in … Glaskugeln sperren kann?«
Es klang so unglaubwürdig wie faszinierend.
»Aber wieso bist du nicht stumm, wenn die Stimmen deines Volkes da drin sind?«, wollte ich wissen und zeigte auf die Nollonin.
»Ich weiß es nicht«, heulte Lia auf. »Vielleicht habe ich meine Stimme wieder, weil ich den Nollonin nahe bin, schließlich trage ich sie ja mit mir herum. Aber was es auch ist: Alle meine Brüder und Schwestern haben nicht die Möglichkeit dazu. Denn die Nollonin sind viele Hundert Meilen weit fort von Gamar. Sie sind hier, im Zentrum des großen Menschenreiches. Und ich muss sie hier fortbringen. Zurück zu den Wäldern und Seen von Quainmar.«
Ihre Verzweiflung war spürbar. Sie füllte die Luft wie ein ätzender Geruch und verbrannte einem die Haut.
»Wenn ich meine Pflichten hier erledigt habe-«, begann ich, aber Lia unterbrach mich.
»Du bist kein böser Mensch, Deckard. Tu, was du tun musst! Halte mich hier wie eine Gefangene, wenn du meinst, aber denke daran, das sich das Wertvollste eines ganzen Volkes hier in deinen Händen befindet!«
Ich sah die drei Nollonin an. Die Nacht waberte in ihnen wie das Unwohlsein in mir. Bedrohlich zuckend, als wolle sie um sich greifen. Ich erschauderte.
»Wenn Linus derjenige ist, der die Nollonin zu dieser Tat … missbraucht hat«, schlussfolgerte ich vorsichtig. »Dann hast du sie ihm … gestohlen?«
Lia nickte weinend.
»Und dann ist es Linus, der Schekich auf dich angesetzt hat.«
Sie nickte wieder.
»Dann dürfte Linus also niemals wissen, dass du hier, quasi unter seinen Augen im königlichen Palast bist?«
»Ich weiß nicht, was er täte, wenn er es wüsste«, weinte Lia. »Die Nollonin bedeuten ihm alles.«
Kapitel 6
Drei Begegnungen
Die Zeit des ruhigen Schlafs war also erneut vorbei. Meine Unterredung mit Lia spukte mir im Kopf rum, wie ein polternder Geist aus einer Legende. Linus war also tatsächlich ein Elb. Und vor allem war Linus
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