Dorn: Roman (German Edition)
in den kommenden Tagen einholen. Aber glücklicherweise traf es ganz sicher nicht.
Wir hetzten eine Weile durch den in den Fels geschlagenen Tunnel. Niemand sprach ein Wort. Alles was geschehen war, war noch viel zu nah. Flucht war der einzige Gedanke, den ich während des Laufens fassen konnte. Amondo wollte, dass ich floh – und ich hatte keine verdammte Wahl.
Mein Zeitgefühl war vollkommen durcheinander. Wie lange wir spärlich erleuchtete Gänge entlangliefen, konnte ich nicht abschätzen. Hier und dort lief knisternd geschmolzenes Pech an den Fackeln hinab und bildete kleine, flammende Pfützen auf dem Felsboden.
Schließlich erreichten wir eine gedrungene, schwere Tür. Lemander hatte von uns dreien den kühlsten Kopf bewahrt und durchschaute sogleich auch diesen Mechanismus, der sich von einer gewöhnlichen Türklinke unterschied. Wir schlüpften hindurch und betraten ein Labyrinth aus zackigen, feuchten Felsen. Die Oberfläche der Tür war von der anderen Seite mit etwas bedeckt, dass leichtem Geröll sehr ähnlich war. Ich konnte nicht erkennen, was es war und es war mir auch gleich. Doch die Wirkung wurde nicht verfehlt. Die Tür im Fels fiel erst auf, wenn man sich genauer und eingehend damit befasste.
Wir suchten einen Weg durch die mehr als mannshohen Felskanten. Zumindest waren wir in einer etwas größeren Höhle gelandet. Da hörte ich das Rauschen des Meeres. Leise nur, in der Ferne, aber auf einmal wusste ich, wo uns unser Weg hinführen sollte: In die königlichen Docks, die auf Meeresniveau in natürlich gewachsenen, ausladenden Höhlen tief unter dem königlichen Palast lagen. Hatte die glatte Rampe tatsächlich so tief hinab in den Fels geführt?
Doch ein anderer Gedanke bemächtigte sich meiner: Meine Leute! Wobert von Loh und meine Garde!
Abrupt stoppte ich ab.
»Ich kann nicht fort!«, meinte ich wie benebelt. »Was geschieht mit meinen Leuten?«
Lemander stapfte zurück und schlug mir ansatzlos ins Gesicht. Taumelnd stürzte ich rückwärts auf den Hosenboden.
»Du Narr!«, fluchte er. »Was glaubst du denn, was dort oben geschieht, bei den Göttern? Amondo Lakarr, der fähigste Mann im ganzen Reich, opfert sich in diesem Moment, damit du eine Chance hast zu entkommen.«
Ich rieb mir verwundert die Wange, wo Lemander mich getroffen hatte und sah verdattert hoch. Mein skurriler Berater pfefferte die Klinge in eine Ecke, die er aus der Dekoration des königlichen Arbeitszimmers entwendet hatte. Es schepperte scheußlich zwischen den Felsen.
»Lia und du, ihr seid die Einzigen, die diesen verflucht großen Mist aufklären könnt. Lia hat die Nollonin und du hast deinen verdammt schlauen Kopf und immerhin noch deinen Namen.«
»Mein Name nützt mir nichts, wenn ich als Verräter gesucht werde.«
»Nicht hier«, bestätigte Lemander wütend. »Aber vielleicht in Quainmar.«
»Quainmar?«, fragten Lia und ich wie aus einem Mund.
Lemander nickte entschlossen. »Das ist das Ziel, zu dem wir aufbrechen sollten. Auch wenn wir dazu einen langen Umweg machen müssen.«
Lia meldete sich zu Wort. »Es stimmt«, meinte sie verschüchtert und mit zittriger Stimme. »Vielleicht endet das alles, wenn wir die Nollonin zurück zu meinem Volk bringen.«
Lemander reichte mir die Hand.
»Jetzt komm und steh auf!«, befahl er mir zischend. Jede Förmlichkeit war vergessen. »Du glaubst an das Eherne Reich wie kein zweiter, den ich kenne. Und da oben«, er deutete mit einem Finger an die Decke, »ist irgendwo ein verfluchter Elben-Bastard, der all das niederreißt, woran du glaubst. Denn aus keinem anderen Grund ist er hier.«
Ich starrte zu Lia, die traurig nickte.
»Steh auf!«, bellte Lemander. Und endlich ließ ich mir auf die Füße helfen.
Drohend zeigte ich mit dem Finger auf Lia, die wegsah.
»Du, junge Elbin«, mahnte ich, »hast mir eine ganze Menge zu erklären!«
»Aber dazu müssen wir erst die Zeit haben«, wand Lemander ein. »Und deshalb: Kommt jetzt endlich!«
Ja, Lemander war jemand, der gut darin war, die richtigen Worte zur richtigen Zeit zu finden. Es war wie ein angeborenes Talent. Ich hatte es auf der Reise nach Anselieth nicht zu schätzen gewusst, als er meine Gefolge mit derben Späßen und Spielchen bei Laune gehalten hatte. Aber das änderte sich gerade vehement.
Wir erreichten die ausladenden Höhlen im Fels, die zu der Seite offen waren, die zur Bucht zeigte. Lange Wellenbrecher hatte man hinaus aufs Meer gebaut und so ein künstliches Hafenbecken alleine
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