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Dorn: Roman (German Edition)

Dorn: Roman (German Edition)

Titel: Dorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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    Ich sprach nicht weiter, weil der Gedanke mich traf wie ein Schlag.
    »… und Linus’ Schwester«, führte Lia den Satz zu Ende. Und wenn sie gerade noch von einem tiefen Schmerz im Herzen der Elben gesprochen hatte, so gab sie mir mit diesen Worten eine Ahnung von dem, was sie meinte.
    »Aber … wie alt seid ihr denn?«, hauchte ich.
    »Elben leben sehr viel länger als Menschen. Irgendwann beschließen sie zu altern, denn sie wissen, dass es einst Zeit für sie wird.«
    Ein berührendes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
    »Auch gemessen am Leben eines Menschen bin ich nicht besonders alt«, meinte sie schließlich. »Ich habe zwanzig Sommer und zwanzig Winter gesehen.«
    Ich nickte. Sehr viel älter wirkte sie auch nicht auf mich.
    »Linus hingegen hat schon weit über fünfzig Sommer gesehen«, ergänzte sie.
    Das wiederum hatte ich nicht erwartet. Linus ähnelte Lia äußerlich so sehr, dass ich ihn für jünger gehalten hatte. Nun gut, wenn Elben langsamer alterten, dann war das wohl möglich. Die geschwisterliche Ähnlichkeit der beiden erklärte auch, weshalb ich Linus gleich beim ersten Mal zweifelsfrei als Elb hatte identifizieren könnten. Aber warum Lia Angst vor ihrem eigenen Bruder hatte, erklärte das noch lange nicht.
    »In Ordnung«, sagte ich, unschlüssig darüber, ob das momentan die richtige Wortwahl war. Ich gab ihr die Chance, sich auszuführen. »Erzähl bitte deine Geschichte weiter!«
    »Meine Eltern ließen Linus alle Freiheiten. Zwar war er ein Prinz, wie die Menschen sagen würden, aber er würde nicht ihre Nachfolge antreten. Denn wenn für ein Königspaar der Elben die Zeit kommt, dann erwählen sie sich ein neues aus ihren Reihen. Es ist nur sehr selten vorgekommen, dass das Kind eines Königspaares Teil des nächsten Königspaares wurde. Während unserer Zeit in Quainmar noch überhaupt nicht.
    Doch offenbar lag es in Linus’ Natur, sich eben jenen Schmerz auszusuchen, der entstand, nachdem die Elben von den Menschen besiegt worden waren. Und so wurde Linus nie ein Freund der Menschen. Nie konnte er ihnen oder dem, was sie taten, etwas Gutes abgewinnen. Selbst wenn er die schönsten Lieder und Balladen schrieb, kreisten seine Gedanken irgendwo tief in seinem Innern immer nur um eine Sache: Den Schmerz, den die Menschen dem Volk der Elben vor langer Zeit zugefügt hatten und der sie bis heute so vehement verfolgt.
    Er ging sogar soweit, meine Eltern zu bitten, das Eherne Reich herauszufordern. Denn das Eherne Reich hat seine einstige Größe und Macht nicht halten können, sondern ist stetig geschrumpft. Ob im Frieden oder durch den langen, blutigen Bürgerkrieg, letztlich ist das Eherne Reich der Menschen wieder verwundbar geworden. Als sei es auf die Dauer für den erneuten Niedergang geschaffen.
    Doch meine Eltern wiesen Linus ab, entsetzt von seinen Plänen. Der Friede des Elbenreiches war und ist ihnen heilig. Denn auch sie kennen die tiefen Wunden unseres Volkes, die die Niederlage gegen König Aan hinterlassen hatte. Doch nach ihrer Auffassung ist es an den Elben, das Bestmögliche daraus zu machen – Quainmar soll Zentrum des elbischen Lebens bleiben und die Länder des Ehernen Reiches Vergangenheit. Das Leben spielte für sie im Hier und Jetzt.
    Doch Linus ließ nicht davon ab und so gingen sie im Streit auseinander. Linus verließ Quainmar noch vor meiner Geburt und suchte sich eine lange Reise als Exil.
    Meine Eltern trauerten noch viele Jahre. Selbst als ich bereits ihr Leben bereicherte, wich der Verlust ihres Sohnes nicht von ihnen. Nirgendwo auf der Welt waren Berichte über Linus zu vernehmen – selbst unter all den Elben, die nicht in Quainmar leben, wusste niemand etwas über seinen Verbleib. So ergaben sich meine Eltern irgendwann nicht weiter der Illusion, Linus könnte einst zurückkehren. Im Laufe meiner Kindheit wurde es immer mehr zu einer umfassenden Gewissheit, dass Linus gestorben sei.«
    Der Fahrtwind spielte mit ihren schwarzen Haaren. Im Mondschein hatte ihre Haut eine beinahe silbrige Farbe. Sie war tatsächlich wunderschön. Ich fühlte mich verantwortlich für sie, auch wenn sie mir trotz ihrer wenigen Lebensjahre wahrscheinlich in mancher Hinsicht einiges voraus hatte. Wie sollte ich die Frage formulieren, die mir auf den Lippen brannte? Ich machte einen holprigen Versuch: »Aber Linus ist nicht gestorben. Wo auch immer er in der Zwischenzeit war.«
    Sie senkte den Blick. »Nein, das ist er nicht. Doch es dauerte zwanzig Jahre, ehe

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