Dornenkuss
als ich ohnehin schon war.
»Ich glaube nicht, dass das der passende Moment für Retourkutschen ist, lieber Jeremiah Lafayette«, giftete ich, unterdrückt genug, dass Charlotte es nicht hören konnte, aber zu laut, um die Aufmerksamkeit der Gäste am Tisch neben uns nicht zu erregen. Neugierig linsten sie zu uns herüber. Ein Paar, das sich stritt, war immer einen Blick wert.
»Ellie, ich habe sie einst geliebt, ich bin ihr das schuldig, so wie ich es dir schuldig sein werde, wenn wir uns in dreißig Jahren wiederbegegnen. Ich möchte ihr eine Geschichte geben, mit der sie leben kann … Ich bin damals einfach verschwunden, konnte mich nicht mehr von ihr verabschieden …«
»Du musst es mir nicht erklären, ich weiß, wie es ist«, unterbrach ich ihn, obwohl Colin mir beide Male einen Abschied gegönnt hatte. Immerhin, das hatte ich ihr voraus. Ich wusste, worum es hier eigentlich ging, und nie hatte ich es mehr gehasst als in diesem Augenblick. »Dann geh ein bisschen lügen und manipulieren, das könnt ihr ja gut.«
Ich beleidigte ihn, es war nicht fair, was ich sagte, aber er persönlich hatte mir diese Worte erst am Abend zuvor eingetrichtert. In ihrer Fähigkeit, andere zu täuschen, waren Mahre unübertroffen. Dann sollte er ihr doch nachlaufen und abgestandene Gefühle aufwärmen. Colin hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass es vor mir andere Frauen in seinem Leben gegeben hatte, und ich hatte kein Problem damit. Ich schätzte seine Erfahrenheit sogar. Die Folgen davon jedoch live zu sehen und zu erleben, war etwas gänzlich anderes, als nur die Geschichten zu hören oder seine Erinnerungen zu streifen, zumal ich sie damals gar nicht hatte einordnen können. Das, was hier geschah, erschütterte mich bis ins Mark. Ich atmete schwer und verkrampft wie nach einem Langstreckenlauf. Doch Colin hatte mir schon den Rücken zugewandt und ging Charlotte energischen Schrittes entgegen.
Für einen Moment wollte ich mein Handy aus der Tasche kramen, um Tillmann anzurufen und ihm davon zu erzählen, doch er wollte ja nicht mein Fußabtreter sein und richtig kam es mir auch nicht vor. Hilflos blieb ich auf meinem Stuhl kleben. Ich konnte nicht glauben, dass Colin das tat, dass er mich zehn Meter Luftlinie von einem Mahr entfernt sitzen ließ, um mit einer alten Liebe zu schwatzen. Gut, ich war nicht allein, sondern umringt von zig anderen Menschen. Angelo würde mich nicht in aller Öffentlichkeit angreifen und aussaugen. Außerdem spielte er bereits Klavier, wieder viel zu schön und zu melancholisch, wo waren die lebensfrohen Nummern? Oder standen die Italiener auf diesen sülzigen Mist? Ja, es war wohl so. Ein paar Kinder rannten strahlend auf das Podest zu und begannen zu tanzen, eigentlich sehr niedlich und zum Schmunzeln, aber ich stierte sie so böse an, dass sie sich wieder zurückzogen und in gebührendem Abstand von mir weitertanzten. Dass ich nicht in Gefahr war, besänftigte mich keineswegs.
Nein, ich würde hier nicht sitzen bleiben und warten, bis der Herr mit seinen Münchhausengeschichten fertig war. Von meinem Platz aus konnte ich gar nicht anders als zuzusehen, wie Colin vor Charlotte stand und ab und zu etwas sagte, nun zwar die Hände in den Hosentaschen, aber eben noch hatte er ihr ein Taschentuch gereicht und vielleicht hatte er auch ihr einst die Tränen von den Wangen gepflückt … wie damals bei mir … Er war derjenige, der mich heute Abend in Gefahr brachte. Nicht Angelo. Das alles tat mir furchtbar weh.
Ich stand auf, drehte mich um und ließ mich von der Musik zu Angelo treiben; solange er spielte, konnte er mir nichts anhaben, also konnte ich ihm auch zuschauen. Ich fand Frauen blöd, die Musiker umschwirrten wie die Motten das Licht, und Groupies, die bei Konzerten in der ersten Reihe Hüften schwenkten und Slips warfen, erst recht – vor allem, nachdem wir gerade einer Frau begegnet waren, die genau das in ihren Jugendjahren getan hatte, bei meinem eigenen Freund, aber heute wollte ich ein Auge zudrücken. Es war besser, bei Angelo am Piano zu stehen, als Colin beim Wiedergutmachen seiner vergangenen Fehler zuzuschauen.
Dummerweise war der Song schon nach wenigen Takten zu Ende, die Leute klatschten und ich lehnte wie bestellt und nicht abgeholt am Flügel, damit beschäftigt, all die Eindrücke zu sortieren, die Angelo mir lieferte. Ja, seine Augen waren wie gemalt und trotzdem derart lebendig, dass sie sogar aus dem Halbdunkel heraus aufleuchteten. Dieses unglaubliche Türkis
Weitere Kostenlose Bücher