Dornenkuss
Vorhangstangen des Salons hingen kreuz und quer herunter. Ein sanfter Wind bauschte den dünnen Stoff auf, sodass seine Säume immer wieder über den Staub am Boden glitten und geheimnisvolle Muster darin hinterließen.
Angelo sah zu mir hoch, ohne mit dem Spielen aufzuhören, und ein wehmütiges Seufzen quälte sich aus meiner Brust. Wie sollte ich jemals einen Tag würdevoll überstehen können, ohne ihn wenigstens anzusehen? In seinem Mund steckte ein Lolli, nur der Stiel schaute heraus, seine linke Wange leicht ausgebeult. Vorsichtig strich ich ihm den Staub aus den Haaren, dann legte ich meine Arme um seine Schultern und schmiegte meine Wange an seine. Das Lied sollte niemals enden, jetzt, wo ich es ohne Hass hören konnte, wenn auch mit unendlicher, ziehender Sehnsucht, die bis in meine Fingerspitzen wanderte, so sehr schmerzte mein Herz.
Vorsichtig nahm ich den Lolli aus seinem Mund – er gab ihn nicht sofort frei, hielt ihn kurz mit seinen Zähnen fest, wie ein junger Hund, der spielen wollte – und schob ihn auf meine Zunge. Angelos Speichel schmeckte süß, darunter wartete die sauer-erfrischende Kombination aus Zitrone und Cola. Meine Lieblingssorte. Natürlich meine Lieblingssorte. Ich biss hinein, bis die scharfen Kanten des Zuckers in meine Zunge schnitten. Knirschend zerkaute ich ihn.
»Wird das irgendwann aufhören?«, fragte ich ihn leise. »Diese Sehnsucht, der Schmerz?«
»Wann immer du willst …«
»Bald«, flüsterte ich. »Ich will dir nahe sein, dich spüren.« Dich verschlingen. Ich wollte es so sehr. In seiner Gegenwart wurde alles belanglos, was vorher die Macht gehabt hatte, mir meinen Lebensmut zu nehmen.
»Das kannst du. Sag mir nur, wann, und ich bin da.«
»In einem Tag und einer Nacht.«
»Einem Tag und einer Nacht?« Sein Lächeln vertiefte sich. »Die Vorfreude, oder?«
»Genau. Ich möchte mich darauf freuen können.« So war es schon immer gewesen. Ich war kein Überraschungsmensch, ich wollte mich auf schöne Dinge freuen können. Ich brauchte mindestens einen Tag und eine Nacht dafür, sonst war es sinnlos. Ich konnte schnell traurig werden, binnen Sekunden, doch die Freude verlangte Zeit.
»Wo?«, fragte Angelo und spielte die verzögerten, bedächtigen Schlusstakte. Ich fing beinahe an zu weinen, als der letzte Ton verklang. Ich wollte es noch einmal hören.
»Oben, in der Sila.«
»In der Sila?«
»Ja. Bei dem Dorf, in dem du mich das erste Mal aufgefangen hast und wir das erste Mal zusammen waren – alleine. Dort soll es geschehen.«
»Es brennt … Der Wald brennt.«
»Ich weiß.« Ich zermalmte krachend den Rest des Lollis, ohne etwas zu schmecken. Nur süß, sonst nichts. »Aber nicht überall. Oberhalb des Dorfes ist eine Wiese, wo die Ziegen geweidet haben. Dort warte ich auf dich, während der Nachmittagshitze. Ich möchte die Sonne auf meiner Haut spüren.«
Er nahm eine meiner Locken an seine weichen Lippen und küsste sie – ein Anblick, den ich niemals vergessen wollte.
»Ich werde da sein.«
»Ich komme dir entgegen.«
Er nickte. »Dann sei es so. – Hat er dir wehgetan?« Er deutete auf die Verletzungen in meinem Gesicht. Die Hitze des Feuers hatte die Risse und Schnitte, die ich mir bei meinem Sturz auf das scharfkantige Gestein von Santorin zugezogen hatte, wieder aufplatzen lassen.
»Colin?« Ich lachte kalt. »Das würde er niemals wagen, er hat sich doch geschworen, mich nicht mehr anzurühren. Ich bin während des Bebens gestolpert und hingefallen.«
»Also hat er dir einst etwas angetan.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Es ist egal.« Ich warf den abgekauten Stiel des Lollis in den Garten und löste ein paar winzige Steinchen aus Angelos Haar. Auch seine Wangen waren überpudert, grau in grau, nur seine Augen leuchteten hell und klar wie immer. »Bald wird mir niemand mehr etwas antun können. Du musst weg, oder?«
Anstatt zu antworten, stand er auf und schritt durch den Salon und die Treppe hinauf, aus der ebenfalls Stufen herausgebrochen waren. Das Geländer hing herab wie eine versteinerte Liane. Ich folgte ihm bis in sein Schlafzimmer, wo er sich sein staubiges Hemd über den Kopf zog und sinnend vor den offenen Kleiderschrank stellte, unschlüssig, was er für seine nächtlichen Raubzüge wählen sollte. Ich lehnte mich an den Türrahmen und sah ihm bei seiner Suche zu, es verlieh mir tiefe Zufriedenheit, dabei sein zu dürfen, während er sich für die Jagd herrichtete.
»Entschuldige bitte übrigens …«, sagte er
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