Dornenkuss
musikalisch, klang zerstört. »Du wagst es, mich um einen Gefallen zu bitten? Nein, Ellie, bleib da stehen, keinen Schritt weiter!« Er fürchtete mich. Ich lehnte mich an die Wand.
»Gut, nennen wir es anders. Lassen wir das mit dem Gefallen weg. Du musst nichts tun. Ich möchte nur, dass du mich hinbringst und in der Nähe bleibst. Ich möchte dich bei mir haben. Bitte. Du sollst es sehen. Aus der Ferne. Mehr nicht.«
»Was soll ich sehen? Wovon redest du?« Das Zittern seiner Hände verstärkte sich. Mit unkontrollierten, abgehackten Bewegungen durchwühlte er seine Nachttischschublade, bis er eine Rolle Traubenzucker fand und sich zwei Stück in den Mund stopfte, als könnten sie aufhalten, was bereits seinen Lauf genommen hatte.
»Ich werde mich verwandeln lassen«, erklärte ich ruhig. »Ich habe mich für das ewige Leben entschieden. Und ich möchte dich dabeihaben. Ich brauche einen Zeugen.«
»Was willst du? Du willst –« Er brach ab. Fassungslos starrte er mich an. »Nein. Niemals. Das werde ich nicht tun. Und du wirst das auch nicht tun! Das tust du nicht!«
»Ich habe mich längst entschieden. Ich muss auf die andere Seite, ich muss! Ich muss, Tillmann, bitte glaube mir. Ich muss.« Ich ließ mich auf die Knie fallen und sah tief in seine geäderten Augen. Doch er schaute weg. »Es gibt keinen anderen Weg.«
»Den gibt es immer. Das war deine Devise, Ellie. Dass es einen anderen Weg gibt! Dass man Pläne fassen und umsetzen kann, selbst wenn alles andere verloren ist!«
»Und warum hast du dann keinen anderen Weg gefunden?« Ich deutete auf seine zitternden Hände und die dünnen Papierchen, die überall zerstreut auf dem Boden lagen. Er hatte Unmengen konsumiert. »Tillmann, ich muss. Es ist das Richtige. Ich bin nicht fürs Menschendasein geeignet. Vertrau mir.«
»Wie soll ich dir denn noch vertrauen, verrate mir das mal!? Ich bin dir doch scheißegal, das alles hier ist dir scheißegal, und dann willst du auch noch eine von denen werden! Was ist mit dem, was wir zusammen getan und erreicht haben, bedeutet dir das gar nichts? Hab ich mein Leben riskiert und mich selbst ruiniert, damit du jetzt umkippst und eine von ihnen wirst? Von ganz allein?«
»Ja. Von ganz allein. Es ist das einzig Richtige«, wiederholte ich geduldig. Näher rücken konnte ich nicht, sonst würde er fliehen. Ich faltete meine Hände, als würde ich ihn anbeten. »Sei bei mir. Bitte sei bei mir, wenn es geschieht – nicht sichtbar, nur so, dass ich es weiß. Dass ich dich spüre. Sei dabei, sieh es dir an, vielleicht willst du es dann auch tun und alles wird gut …«
»Nein. Nein, das werde ich nicht, das kannst du nicht von mir verlangen! Du weißt doch gar nicht mehr, wer du bist!«, schrie er. Sein linkes Auge begann nervös zu zucken. Angespannt zog er die Nase hoch. Er brauchte Nachschub.
»Aber ich weiß, wer ich sein will, und ich möchte, dass die anderen um meine Freiwilligkeit wissen. Sie sollen wissen, dass ich es selbst entschieden habe, sonst würden sie sich ihr Leben lang darüber grämen. Wenn du es schon nicht für mich tust, dann tu es für sie.« Ich sprach weder panisch noch gehetzt, sondern bemühte mich, jedes einzelne Wort klar und bestimmt zu artikulieren, damit ihm auch ja keines entging. »Du musst mir vertrauen.« Ohne ihn würde ich es nicht tun können.
»Ich muss gar nichts!« Tillmann nahm eine der halb leeren Flaschen und zielte auf mich. Es genügte, meinen Kopf ein paar Zentimeter zur Seite zu nehmen, um nicht von ihr getroffen zu werden. Ihr Deckel löste sich beim Aufprall und der gegorene Rest der Orangenlimonade floss sofort unter meine nackten Knie. Ich blieb trotzdem hocken, wie ein Büßer vor dem Altar.
»Ich habe dir ebenfalls vertraut, blind vertraut«, erinnerte ich ihn. »Ich habe Drogen genommen, nur weil ich dir vertraut habe.« Ich wusste nicht mehr, warum wir sie genommen hatten, es hatte wohl etwas mit Tessa zu tun gehabt. Alles, was ich wusste, war, dass ich es eigentlich nicht hatte tun wollen und mich nur deshalb dazu entschlossen hatte, weil ich ihm mein Vertrauen schenkte. »Also vertrau auch du mir in meinem Vorhaben. Wir sind Freunde.«
»Freunde!« Er zog verächtlich die Mundwinkel herunter. »Du redest von Freundschaft …«
»Warum bist du überhaupt noch hier, wenn du mich so hasst?«
»Weil … weil ich noch … ich kann so nicht nach Hause, Ellie! Wie soll ich denn so nach Hause gehen, in diesem Zustand, wie soll ich das erklären, außerdem …
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