Dornenkuss
wohl.«
»Ellie … Ellie! Ich weiß nicht, ob … ob sie … Scheiße! Geh nicht!«
Doch ich hatte mich schon auf den Weg gemacht. Ich hörte und sah alles, ohne mich darauf konzentrieren zu müssen. Ich war vollkommen offen, meine Sinne empfingen die Welt um mich herum aufmerksamer denn je. Ich hörte jeden vertrockneten Grashalm, der unter dem Gewicht meines geschmeidigen Körpers brach, als ich die Geröllpiste verließ und den Hirtenpfad hinauf zur Wiese nahm, während im Dorf über mir die Orgelpfeifen klagend sangen. Ich konnte die Flammen, die abseits des Weges wüteten, voneinander unterscheiden, nicht nur an ihrem Geräusch, sondern auch an ihrem Geruch und ihrer Farbe, rot, orange, grelles Weiß, ich fühlte das Erbeben des Grundes, wenn das Wild um sein Leben floh, und trotz dem Brüllen des Feuers vernahm ich auch das Kreischen der Zikaden, die erst dann aufhören würden zu rufen, wenn ihre zähen Leiber zu Asche zerfielen.
Keine Macht dieser Erde konnte mich aufhalten, ich lief wie von einem Magneten gezogen, selbst wenn die Flammen mir noch so nahe kamen. Ich hatte vor nichts mehr Angst. Es fing bereits an …
Ich blinzelte kein einziges Mal. Vor mir erhob sich die sanft ansteigende Wiese, von der die Tiere längst weggebracht worden waren, um sie vor den Flammen zu schützen, hinter mir fiel der Berg steil ab, neben mir erhob sich dichter Wald, brennend und rauchend, auf der anderen Seite das verlassene Dorf.
Das hier war meine eigene Idylle, die darauf gewartet hatte, dass ich kam. Nur ich.
Auch Angelo näherte sich, er befand sich noch zu weit weg, um ihn schon sehen zu können, doch ich spürte ihn. Er schritt lächelnd voran, die Arme entspannt und den Kopf leicht schräg gelegt, weil er mich ebenso fühlte wie ich ihn und wusste, dass es kein Zögern mehr geben würde. Ich hatte meine Zweifel besiegt und allein dieser Gedanke versetzte mich in eine entseelte, heroische Stimmung. Selbst meiner Wut gestattete ich, bei mir zu bleiben, denn ich würde sie bald für alle Ewigkeit vernichten.
Die Erde und die Menschen waren mir untertänig, nicht umgekehrt. Meine Gefühle waren mir untertänig. Das Blatt wendete sich.
Jetzt wuchs seine Gestalt aus der Senke. Er brauchte keinen Streitwagen mit Sonnenpferden, um die Erde zu überstrahlen. Er leuchtete überirdisch hell. Mein Gesicht jedoch blieb ernst und verschlossen und meine Augen loderten in eisigem Blaugrün auf, als ich auch die anderen bemerkte. Sie verbargen sich hinter ihm. Sie waren ihm gefolgt und hatten sich versteckt, um uns zuzusehen, so wie Tillmann mir zusehen würde.
Zeugen auf beiden Fronten.
Obwohl die Waldbrände gnadenlos tosten und sich rasant ausbreiteten, senkte sich mit einem Mal eine tödliche Stille auf uns herab. Angelos Gestalt, so schlank und jugendlich, näherte sich mir flimmernd; er lief langsam und gelassen wie ich. Eile war unnötig geworden. Wir wollten es auskosten.
Der Abstand zwischen uns schmolz. Nun konnte ich seine Augen sehen, schräg und glitzernd. Ein grelles Funkeln blitzte in ihnen auf, als er meine nackte Haut betrachtete. Er verzehrte sich nach mir.
Es waren nur noch wenige Meter, die uns trennten. Die Vipern erwachten aus ihrem trägen Schlummer. Verängstigt zischelten sie und suchten nach ihrer Mutter, ein Kitzeln auf meinem Schädel, nur eine winzige Erschütterung, die mich unwillkürlich tief Luft holen ließ, bis sich die angebrochene Rippe brutal in meine Lunge bohrte.
In meinem Kopf begannen Mauern einzustürzen, eine nach der anderen – erst ein drohendes, verhaltenes Erbeben, dann ein gewaltvolles Poltern, dem eine Lawine aus Schmerz, Zorn und Erniedrigung folgte. Sie ergoss sich bis in mein Herz, lähmte meinen Atem und öffnete meine Augen.
Ich konnte überall hinsehen. Überall. Nicht nur nach vorne, sondern auch nach hinten und zur Seite, durch meine Schädelwände hindurch, wo meine eigene Armee aufmarschierte, im Gleichschritt, getrieben von demselben, allumfassenden Gefühl. Liebe.
Da war Tillmann, der sich stolpernd und würgend zu meiner Rechten über den glühend heißen Grund kämpfte und immer wieder auf sein bleiches Gesicht stürzte, das von blutigen Schrammen übersät war, da sein Körper ihm nicht mehr gehorchte.
Da war mein Bruder Paul, mit galliger Melancholie und Verachtung in seinem stählernen Blick, seine Bewegungen gedämpft von der bulligen Unnachgiebigkeit seiner Schultern.
Neben ihm lief Gianna, blass und ausgezehrt, voller Furcht vor der Zukunft,
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