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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Tür vorbeigehen musste. Sich seine Geschwister beim Sex vorzustellen, war für mich ähnlich indiskutabel, wie sich die Eltern beim Sex vorzustellen. Geschwister und Eltern hatten keinen Sex, basta.
    Ich dackelte Tillmann mit der Hand an der Schläfe hinterher und hatte schon nach wenigen Biegungen und Abkürzungen die Orientierung verloren. Ich fragte mich, ob er uns zu Colins Haus führen wollte, aber bei dieser Variante bekamen die beiden Badetücher noch weniger Sinn.
    Obwohl Tillmann in spontaner Kavalierslaune meinen Rucksack auf den Rücken genommen hatte, fehlte es seinen Schritten nicht an Eile. Ich hatte nie zuvor einen jungen Menschen gesehen, der so schnell lief, ohne dabei hektisch oder panisch zu wirken. Es war, als ob in seinen Hüften Räder kreisten und seine Beine antrieben, Räder, die man nicht einfach so stoppen konnte, die seine Bewegungen aber stets geschmeidig aussehen ließen. Ja, er lief nicht schnell, weil er flüchtete, sondern weil er ein Ziel hatte – oder beides?
    Nach einer weiteren Abkürzung über einen Wildpfad durchs Dickicht gelangten wir an einen der vielen Bäche. In malerischen Windungen plätscherte er einen sanft geneigten Hang hinunter, auf dem die Bäume vom letzten Wintersturm noch kreuz und quer lagen und teilweise schon von Moos bewachsen waren. Am Ufer befand sich eine kleine runde Lichtung mit einer Feuerstelle, die nur notdürftig abgedeckt worden war – einer der vielen verborgenen Schlupfwinkel im Wald, an denen Tillmann Indianerles spielte –, und zum Glück eine, die nicht von Spinnweben bedeckt war. Sie lag weit weg von Colins Haus und ebenso weit weg von jenen unwirtlichen Gegenden, in denen der Kampf mit Tessa stattgefunden hatte.
    Tillmann machte sich am Rande der Lichtung an einer Plane zu schaffen, unter der ich einen Holzstoß vermutet hatte, der vor der Feuchtigkeit geschützt werden sollte. Doch zum Vorschein kam kein Brennholz, sondern eine Schwitzhütte, deren runde Öffnung zum Bach und den näher kommenden Regenwolken zeigte. Stöhnend legte ich das Gesicht in meine Hände und ließ mich auf einem Baumstumpf nieder. Ein Schwitzzelt. Ich sehnte mich nach Kühle, hatte vorhin sogar einen Plastikbeutel mit Eiswürfeln auf meine Stirn gelegt, um mir Linderung zu verschaffen, und Tillmann wollte mich in ein Schwitzzelt setzen? Mitten im Wald? Wollte er mich umbringen? Mein Kopf würde platzen wie eine überreife Melone.
    Ich blieb starr und angespannt sitzen, während Tillmann das Feuer anfachte und runde Steine in seine Mitte legte. Dann kroch er in das Zelt, um es herzurichten – was auch immer er dafür tun musste. Vielleicht ein paar indianische Jagdszenen an die Planen kritzeln.
    Die Vögel über uns tschilpten vergnügt, als wäre heute der schönste Sommertag, und hätte ich ein Gewehr bei mir gehabt, hätte ich ohne das geringste Bedauern den Specht abgeknallt, der gut verborgen hinter den hellgrünen Zweigen rhythmisch klackernd wie ein Metronom nach Insekten suchte. Ich wollte ihn aus zweierlei Gründen tot ins Laub fallen sehen: weil er meine Schmerzen anfeuerte mit seinem ewigen Tackern und weil er mich unweigerlich an jene Sekunden erinnerte, in denen Colin und ich Tessa mutwillig vergessen und sie damit angelockt hatten, in der Lausitz bei den Wölfen und an einem Morgen, der mir erschienen war wie der Auftakt zu allem Guten und Leichten. Selten hatte ich mich fataler geirrt als in diesem Moment.
    Ich stand auf, zog das zusammengefaltete DIN-A4-Blatt aus meiner Hosentasche, das ich gestern dort versteckt hatte, und wollte es in das Feuer werfen.
    »Hey, hey, nicht so schnell«, kam Tillmann mir in letzter Sekunde dazwischen, um das glimmende Papier aus den Flammen zu retten. »Ist das Colins Brief?«
    Ich nickte verbissen. Ja, das war er. Tillmann hätte ihn gar nicht retten müssen. Ich kannte ihn leider sowieso auswendig. Zu oft hatte ich ihn durchgelesen, weil ich hoffte, eine verborgene Botschaft zu finden, die etwas anderes meinte als diese trockenen, sachlichen Zeilen, die auch an einen Fremden hätten gerichtet sein können. Erst nach dem zehnten Lesen hatte ich aufgegeben. Nun wollte ich ihn nicht mehr haben.
    Während Tillmann ihn entzifferte, erschienen Colins geschwungene Lettern wie ein Fluch vor meinem geistigen Auge – geschwungen und in sepiafarbener Tinte, aber nicht ganz so edel und aristokratisch wie in den anderen Briefen, die er mir geschrieben hatte. Auch darin sah ich einen Affront. Er hatte geschludert.
    »Hallo,

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