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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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lieber über Österreich und einen Pass gefahren«, nölte er, während ich mich erleichtert an Paul lehnte und erneut tief einatmete. Paul strich mir entschuldigend über meine Haare.
    »Das ist ein Umweg, wie oft soll ich es denn noch sagen?«, rief Gianna genervt. »Kein Mensch fährt freiwillig über einen Pass, außerdem gibt es dann keinen Gotthard-Effekt. Wir wollten doch den Gotthard-Effekt.«
    »Ihr wolltet den Gotthard-Effekt. Ich nicht.«
    Ich verstand gar nichts. Doch mir waren Tillmanns und Giannas Routendiskussionen relativ gleichgültig. Ich musste einen Kaffee trinken, um meine ausgedörrte Kehle zu benetzen, und ein kleines Frühstück konnte auch nicht schaden.
    »Was soll ich mit denen machen?«, fragte ich spitz und schwenkte die Tampons hin und her. »Wegwerfen? Oder habt ihr vielleicht noch Verwendung dafür? Ich könnte sie dir zum Beispiel in den Hintern stecken, Tillmann.«
    Tillmann grinste trotz seines Unmuts über unseren Zwischenstopp von einem Ohr bis zum anderen, doch Giannas Fröhlichkeit fiel von ihrem Gesicht ab wie eine Faschingsmaske, deren Befestigungsgummi gerissen war. Blankes Entsetzen malte sich auf ihren übermüdeten Zügen ab.
    »Oh nein! Nein! Scheiße! Ich hab mein Kosmetikköfferchen bei euch zu Hause vergessen … das brauche ich doch … Jetzt hab ich nichts dabei, um mich zurechtzumachen, gar nichts! Nicht einmal meine Bürste!«
    Gianna schlug die Hände vors Gesicht, als hätten wir gerade erfahren, dass in den nächsten Minuten ein Meteorit auf unseren Planeten krachen und alles für immer zerstören würde. Tillmann und Paul schienen noch zu überlegen, ob sie versuchte, einen Witz zu machen, oder ihr Lamento ernst meinte. Doch sie meinte es ernst.
    »Das gibt es doch nicht«, jammerte sie den Tränen nahe. »Ich hatte immer Albträume, dass mir so was passiert, weil ich überstürzt irgendwohin fahre, und jetzt ist es wirklich passiert …«
    »Du wirst dir ja wohl heute Abend ein paar Dinge kaufen können, oder? Zumindest das Notwendigste«, versuchte Paul ein wenig Sachlichkeit in die Diskussion zu bringen, ohne seine Belustigung verbergen zu können.
    »Ich hab keine Ahnung, ob die in Italien all das haben, was ich brauche, und … ach, das verstehst du nicht«, motzte Gianna.
    »Nee. Verstehe ich wirklich nicht. Kosmetikköfferchen …«
    Ich hingegen verstand genau, was Gianna aus der Fassung brachte. Ich hatte diese Träume, von denen sie gesprochen hatte, auch schon oft gehabt – Träume, in denen ich ungewohnt spontan und planlos verreiste und fast nichts dabeihatte. Meistens hatte ich in diesen Träumen auch nichts an, allenfalls ein Hemdchen, das kaum über meinen Hintern reichte. Aber es waren nicht einfach nur peinliche Träume. Es waren Albträume, die mich bis in die Erschöpfung trieben, weil ich in ihnen pausenlos damit beschäftigt war, mir in unübersichtlichen, fremden Geschäften kurz vor Ladenschluss das Wichtigste zusammenzusuchen, und mich dabei nie entscheiden konnte, was ich wählen sollte. Giannas vergessene Kosmetiktasche war nicht das eigentliche Drama. Das Drama war unsere Planlosigkeit. Sie war es, die Gianna in Aufregung versetzte. Ich musste sie ablenken und vor allem musste ich mich selbst ablenken, bevor ich mich ihr anschloss und zusammen mit ihr durchdrehte.
    »Können wir frühstücken?«, fragte ich so fröhlich wie möglich. »Sollen wir irgendwo einkehren oder was besorgen?«
    »Ich geh einkaufen.« Gianna drehte sich zackig von uns weg – in ihren Augen waren wir persönlich schuld an ihrer Kosmetikmisere (im Grunde war ich es ja auch) – und marschierte der Straße entgegen. Eine Viertelstunde später war ihr Ärger verraucht und wir saßen einträchtig nebeneinander auf einer Bank, aßen Plunderteilchen, schlürften einen überteuerten Mövenpick-Kaffee und genossen die prachtvolle Bergkulisse. Sogar Tillmann gab sich friedlich. Für ein paar Minuten konnte ich den Zweck unserer Reise und meine Erkältung vergessen.
    Obwohl Paul und Gianna Händchen hielten, wagte ich es, meinen Kopf an seinen Oberarm zu lehnen und ein wenig von seiner Wärme zu kosten. Noch war es empfindlich kühl und etliche Schäfchenwolken zogen über den azurblauen Himmel, doch in gesundem Zustand und mit anderen Reiseplänen als einem unausgereiften Mordkommando wäre das Glück greifbar gewesen.
    Kurz vor Mittag jedoch befand es sich weiter weg denn je, obwohl die anderen sich in bester Stimmung wähnten – Giannas viel gepriesener

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