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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Vater lebte – musste ich abstinent bleiben, damit meine Blase es ebenfalls blieb. Ich konnte gut einhalten, das war eine meiner Spezialitäten.
    Dass dieses Vorhaben nur in einem Desaster enden konnte, musste drei Stunden später auch ich einsehen. Nach einem Stau kurz vor Parma hatte die Wageninnentemperatur die 45-Grad-Marke geknackt. Wir hatten Handtücher angefeuchtet und in die Scheiben geklemmt, um uns vor der sengenden Sonne zu schützen, die im Zenit stand und das dunkle Wagendach in eine Kochplatte verwandelte. Doch diese Handtücher hatten den Nachteil, dass sie die Luftfeuchtigkeit ansteigen ließen und die Sauerstoffzufuhr blockierten, während durch die Düsen der Klimaanlage Benzingestank ins Auto gepustet wurde.
    Selbst unsere Musik, die wir ununterbrochen abspielten, brachte mir keine Ablenkung, sondern untermalte mein Elend nur noch, und das hatte ich ausgerechnet meinem demokratischen System zu verdanken, laut dem jeder von uns abwechselnd einen Sampler oder ein Album aussuchen durfte. Soeben war Tillmanns Eminem-Gebrüll verklungen und durch Giannas Keane-Album ersetzt worden. Der Sänger wusste offenbar, was ich durchmachte, denn auch seine Lieder enthielten allerhand Agonie in unterschiedlichsten Tonlagen.
    Er erklärte uns gerade in herzerweichenden Lyrics, warum er ein »broken toy« war, als ich meine Fingerkuppen und Zehen auf einmal nicht mehr spürte. Ich war so dehydriert und überhitzt, dass mein inzwischen sehr zäher Kreislauf sich an alte Tage erinnerte und mir mit Ohnmachten drohte. Es war ausnahmsweise Gianna, die bemerkte, dass es mir beschissen ging, und nicht Paul. Paul hatte seine Adleraugen auf die Straße gerichtet und regte sich immer noch über die ständigen Mautgebühren auf. Geizanfälle gehörten bedauerlicherweise ebenfalls zu François’ Spätfolgen.
    »Ellie, alles okay? Ellie … hörst du mich? Hallo?«
    Ich wollte Gianna antworten, aber das Würgen in meiner Kehle hielt mich davon ab, auch nur irgendeinen Laut zu artikulieren.
    »Paul, du musst mal rausfahren, sie atmet so flach und ihre Hände sind kalt …«
    »Wenn ich rausfahre, muss ich wieder blechen, reicht es nicht, wenn wir die nächste Raststätte ansteuern?«
    Nein, bitte nicht. Keine neue Raststätte. Mein akuter Anfall von vorurteilsgespickter Fremdenfeindlichkeit, der mich vorhin in eine Art Hygienewahn getrieben hatte, war mir zwar ein wenig peinlich und ich hatte mich bei Gianna auch schon dafür entschuldigt, ohne eine Erklärung davongestürmt zu sein, doch einer weiteren Raststätte sah ich mich nicht gewachsen. Zum Glück ahnte Gianna das.
    »Ich glaub, eine Raststätte ist nicht das Richtige. Schau mal, da vorne ist eine uscita, fahr irgendwo ins Feld rein, bitte, Paul.«
    Ja, mach das, Paul, dachte ich. Felder gab es hier wahrlich genug. Noch immer befanden wir uns in der Poebene, einer Einöde, wie ich sie niemals in Italien vermutet hätte. Keine Palmen, kein Meer, keine schmucken Häuser, sondern Industrieansiedlungen und dazwischen nichts als Äcker und Bauernhöfe. Auf keiner einzigen Touristikseite im Internet hatte ich derartige Bilder gesehen. Sie hatten sie mir verschwiegen. Diese Landschaft stimmte einen depressiv und die stolzen Gipfel der Apenninen am Horizont unterstützten diesen Eindruck nur. Sie erschienen mir wie eine Fata Morgana, viel zu weit weg und nur eine Fantasie. Wenn man sich ihnen näherte, würden sie sich auflösen.
    »Leiser«, wollte ich Gianna bitten, die Musik zu dämmen, doch sie hatte sich zu mir umgedreht, um mir mit einem feuchten Handtuch die Haare aus der Stirn zu streichen. Ihre Hände waren warm, ihre Berührungen kamen mir klebrig vor. Der Sänger hatte derweil sein Klagen unterbrochen, um sich in schwebenden, weibisch hohen Falsettgesängen zu suhlen, die mich im Kreis wirbelten, im gemeinsamen, schwerfällig tanzenden Rhythmus des Kribbeins in meinen Armen und Beinen. Seine Stimme raubte mir mein Blut.
    Ich spürte, wie Paul die Autobahn verließ. Der Wagen legte sich schräg. Ich fiel, ohne zu stürzen. Kurz darauf begannen die Räder unter uns zu rumpeln.
    »Da vorne, schau mal, da stehen ein paar Bäume, vor dem Gebäude! Sie muss in den Schatten«, wies Gianna Paul an.
    Wie wollten sie mich aus dem Wagen bekommen? Ich hatte keine Konturen mehr, keine Festigkeit. Ich war mir sicher, dass man mich nicht berühren konnte. Die lockenden Falsettgesänge und das Klagen der Gitarren hatten mich aufgelöst. Ich fühlte nichts, als sie die Tür

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