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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Gotthard-Effekt war eingetreten. Vorher hatten wir uns noch in gemäßigtem, mitteleuropäischem Klima bewegt, doch nachdem der Tunnel uns wieder ausgespuckt hatte, umfing uns die Sahelzone. So fühlte es sich für mich jedenfalls an. Mir war es viel zu heiß und die Klimaanlage unseres betagten Volvos kam mit der südlichen Wärme ebenso schlecht zurecht wie ich.
    Bis vor wenigen Kilometern hatte sie immerhin halbwegs kühle Luft in den Wagen gepustet, nun spendete sie nur noch lauwarme. Bald würden wir in einem Föhn mit 190 PS sitzen. Ich flüchtete mich in eine Mischung aus Märtyrertum und Apathie und hoffte, ein weiteres Mal schlafen zu können. Stattdessen forderte der Kaffee seinen Tribut. Hundert Kilometer nach Mailand legten wir einen Stopp ein, um zu tanken und unseren körperlichen Bedürfnissen nachzugehen.
    Doch die Raststätte war ein Schock – und ich reagierte wie in einem Schockzustand darauf. Nämlich gar nicht mehr.
    »Geh weiter«, forderte mich Gianna stupsend auf, als wir die übervolle Toilettenanlage erreicht hatten. Ich blieb reglos stehen. Ich konnte meine Füße nicht mehr anheben. Ich wollte dort nicht rein. Ich roch die Pisse jetzt schon, der Gestank war überall, unterwanderte sogar den Raststättengeruch nach Öl, Diesel, schimmelnden Essensresten und modrigem Papier, doch am meisten lähmten mich die vielen Menschen, die so unbekümmert miteinander schnatterten und palaverten, laut und leutselig. Sie ließen sich durch die schmuddelige Umgebung nicht im Geringsten stören. Es machte mich vollkommen irre, dass ich kein Wort von dem verstand, was sie in die stickige Luft brüllten, nicht eine winzige Silbe herausfilterte, die ich übersetzen konnte. Sie schlossen mich aus.
    Ich fühlte mich augenblicklich schmutzig, ja, es genügte, diese benzingeschwängerte, staubige Luft zu atmen, sich in ihr zu bewegen, um schmutzig zu werden. Es würde nicht ausreichen, sich nach dem Toilettengang die Hände zu waschen. Diese Menschen fassten alles an, sie machten sich keine Gedanken darüber, was kontaminiert sein könnte und was nicht. Ihre Fingerabdrücke hafteten auf jedem Quadratmillimeter dieses architektonischen Verbrechens. Gerade kam eine Mutter mit ihrem kleinen Kind aus einer der Kabinen und ging schnurstracks wieder nach draußen, sie hatte die Waschbecken nicht einmal angeschaut … Und ringelte sich da nicht Klopapier auf dem feuchten Boden? Wahrscheinlich gab es in den meisten Kabinen gar kein sauberes Klopapier. Man musste es von den versifften Kacheln klauben.
    Vor uns begannen zwei italienische Omas lebhaft miteinander zu plaudern, als hätten sie alle Zeit der Welt, und die ältere von ihnen hielt ununterbrochen die Türklinke der Toilettenanlage in ihrer Hand – eine Klinke, die schon Tausende andere Menschen berührt hatten. Bei Temperaturen um die 37 Grad wuchsen Bakterienstämme innerhalb einer Stunde um mindestens das Doppelte an. Meiner Meinung nach hatten wir 37 Grad. Diese Toilettenanlage war eine einzige gigantische Petrischale.
    »Ellie! Was ist denn jetzt?« Wieder stupste Gianna mich in den Rücken. Ich machte ein Hohlkreuz, um ihrem Finger auszuweichen, und drehte mich um, ohne sie anzusehen.
    »Ich muss nicht mehr«, murmelte ich und stürzte an ihr vorbei zum Auto zurück, um nach der Tasche mit Pauls Medikamenten zu suchen, denn dort würde sich auch Desinfektionslösung befinden. Ich musste mir meine Hände reinigen, sofort. Doch Tillmann blockierte den Kofferraum, die Arme tief im Gepäck vergraben. Auch er würde sich seine Hände reinigen müssen. Alle mussten das tun, sie mussten mir gehorchen, ganz egal, ob sie über mich lachen würden oder nicht.
    »Wo sind Pauls Medikamente? Geh mal bitte zur Seite … Ihr habt doch das Pinimenthol rausgesucht, wo …«
    »Das war in deiner Tasche. Hey! Ellie, weg da!«
    Tillmann stieß mich unsanft von sich fort und verschwand wieder mit dem gesamten Oberkörper im Kofferraum. Es sah aus, als würde er sämtliche Taschen umschichten, dabei hatte Paul millimetergenau gepackt, damit wir auch all unsere Habseligkeiten unterbringen konnten. Es gab keinen Grund, dieses System zu ändern. Der Platz im Auto war begrenzt genug.
    Ich wollte erneut dazwischengehen, doch meine Knie fühlten sich plötzlich so weich an und mein Magen so flau, dass ich mich auf die Rückbank schob und meine Hände notdürftig mit meinem Trinkwasser reinigte. Trinken würde ich sowieso nichts mehr. Bis Verucchio – so hieß der Ort, in dem Giannas

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