Dornenliebe
es stammt, wer es ihr geschenkt hat, ob es ihr etwas bedeutet, womöglich sogar mehr als die Geschenke, die Falk ihr bisher gemacht hat. Wann immer Luna dazu etwas erzählt, das seine Eifersucht aufkeimen lässt, entfernt er den Gegenstand von seinem Platz und wirft ihn in eine Tüte, um später alles an einem unbekannten Ort zu entsorgen. Wirft CDs weg, die sie auf früheren Klassenfesten gehört hat, zerstört DVDs von Popgruppen, für die sie im späten Grundschulalter schwärmte. Ebenso verfährt er mit Lunas Büchern; eines nach dem anderen zieht er aus dem Regal, um es nach Widmungen und Glückwünschen zu durchsuchen,
wie man sie manchmal hineinschreibt, wenn man einen Roman zum Geburtstag oder zu einem anderen Anlass verschenkt.
Sogar Lunas Bibel durchsucht Falk. Luna ist keine regelmäßige Kirchgängerin, doch nach Thores Tod hat sie einige Tage lang nach Texten gesucht, die ihr Antworten geben sollten auf die unzähligen Fragen, die in ihrem Kopf kreisten und sie fast um den Verstand brachten; Trost hatte sie finden wollen und ein wenig innere Ruhe, manche Texte waren schön gewesen. Thore war kirchlich bestattet worden und Luna hatte seinen Beerdigungsspruch herausgesucht und die Bibelstelle für den Pfarrer herausgeschrieben. Die Eltern hatten sich in ihrem Schmerz nicht dazu in der Lage gesehen. Falk blättert, vertieft sich in die Schriften. Plötzlich rutscht ein Foto in seine Hände, Lunas Konfirmationsbild von vor vier Jahren, sie steht darauf neben Thore, der damals knapp siebzehn war. Lächelnd hat er den Arm um seine Schwester gelegt. Falk starrt auf das Bild, schüttelt den Kopf, hält es dichter vor seine Augen. Luna bemerkt, wie sich sein Körper strafft, sie kennt diese Bewegung und weiß, was sie bedeutet. Dieser Angriff noch, denkt sie. Dann ist ohnehin nichts mehr übrig von dem, was zwischen uns war.
»Wer ist das?«, fragt er da auch schon. Luna gibt ihm Auskunft.
»Lüg mir nicht die Ohren voll«, herrscht er sie an. »Ich erkenne deinen Bruder nicht, auf den anderen Bildern sah er anders aus.«
»Das liegt sicher an seinem Styling.« Luna versucht, ruhig zu bleiben. »Mit siebzehn hatte er mal ganz kurze Haare, aber das gefiel ihm dann doch nicht. Mein Konfirmationsalbum ist bei meinen Eltern geblieben, sonst könnte ich dir die anderen Fotos auch zeigen. Wir stehen alle brav vor der Kirche oder sitzen am Kaffeetisch,
nur wir vier und noch ein paar Verwandte. Weiter nichts.«
»Du kannst also nicht beweisen, dass dies dein Bruder ist.«
»Wenn du genau hinsiehst und sein Gesicht mit dem auf den anderen Familienbildern vergleichst, die du gesehen hast, müsste ich das auch nicht.«
»Du kannst es also nicht beweisen, nein?« Falk hält das Bild in die Höhe und tritt einen Schritt auf Luna zu. »Dann ist es dein Liebhaber.«
»Nein, es ist mein Bruder.«
»Dein Liebhaber, Luna. Gib es zu. Du betrügst mich.«
»Ich betrüge dich nicht und der Junge auf dem Foto ist Thore.«
»Ich glaube dir nicht«, entgegnet er. Wieder sein beherrschter, ruhiger Ton, gegen den sie sich so machtlos fühlt. »Und deshalb verschwindet auch dieses Bild. Genau wie alle anderen. Es existiert nicht mehr, ebenso wenig wie der Mistkerl darauf noch existiert.« Mit diesen Worten reißt er das Foto der Länge nach durch, Luna schreit auf und will es ihm aus der Hand reißen, doch Falk hält es so hoch, dass sie nicht darankommt, zerfetzt es über seinem Kopf in winzige Stücke und nicht eines davon segelt zu Boden, sodass sie es aufheben könnte.
»Alles klar?« Falk wendet sich erneut dem Bücherregal zu, nachdem er das zerrissene Bild in seiner Hosentasche versenkt hat. »Dann kann es also weitergehen.«
Erst nachdem Falk das letzte Buch aus ihrem Regal zerfetzt und die Schnipsel in den Paperkorb gebracht hat, sieht er Luna zufrieden an.
»So muss es sein«, beschließt er. »Jetzt ist alles richtig. Sieh dich nur um, Luna; wirkt der Raum jetzt nicht erheblich ordentlicher? Um nicht zu sagen, erwachsener?«
Luna spürt, wie Tränen in ihre Augen schießen, doch
sie unterdrückt sie, es hat keinen Sinn zu weinen. Konnte sie Falk anfangs noch damit berühren, scheint nun ausschließlich sein Wille zu zählen. Was sie empfindet, während er seinen Stacheldraht immer enger um sie spannt, sie gefangen nimmt, wie ein Schaf oder eine Ziege sich in einem Dornengestrüpp verirren, zählt nicht mehr.
»Es sieht aus wie jedes Zimmer«, bemerkt sie Achsel zuckend. »Meine Vergangenheit ist ausgelöscht,
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