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Dornröschenschlaf

Dornröschenschlaf

Titel: Dornröschenschlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Gaylin
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zu.
    Der letzte Satz der Webseite jedoch hatte sich in ihren Gedanken festgesetzt. Erfinde dich neu. Sie dachte an die alte Lydia. Mit ihren scharf geschnittenen Wangenknochen, ihrem schwarz schimmernden Haar und ihren lebendigen Augen hatte sie zu dem Typ Frau gehört, der alle Blicke auf sich zog. Dem Typ Frau, der seinen Weg in die Gedanken eines Mannes finden konnte und dann dort für alle Zeiten blieb.
    Aber in den letzten Jahren hatte sie all diese Attribute aufgegeben, hatte ihre Wangenknochen in dem teigigen Gesicht verschwinden lassen, ihr zuvor gepflegtes, seidig weiches schwarzes Haar gegen eine wirre graue Mähne eingetauscht, und einzig die leuchtenden Augen in der dicken Schicht ihr fremden Fleischs erinnerten noch an den Menschen, der sie einst gewesen war. Echte Partycrasher-Augen – auch wenn ihre letzte Party eine traurige und trübselige Angelegenheit gewesen war.
    So ist sie heute. Und so war sie damals. Einfach so.
    Brenna schloss die Augen, während sich in ihren Gedanken Lydias neues Gesicht über das alte schob. Erfinde dich neu. Hatte Lydia das getan? Hatte sie sich nicht gehenlassen, nicht »die Trauer in sich reingefressen«, sondern sich befreit? Vielleicht hatte sie es ja bewusst getan – hatte sich bewusst in Lagen aus Fett wie in einen Kokon gehüllt und dann … Die größte Errungenschaft ist Selbstlosigkeit.
    Vielleicht hatte sie ja lediglich die alte Lydia hinter sich gelassen. War aus dieser Stadt verschwunden, wo sie niemand zu vermissen schien. Hatte ein letztes Mal den »Mann zum Anlehnen« in Buffalo besucht, und dann war sie ein neuer Mensch gewesen, frei, ein neues Leben zu beginnen – weit weg vom Geist ihres verschwundenen Kindes und weit weg auch von dem Mann in dem Vivio Bistro.
    Brenna wandte sich erneut der Liste zu. Roger Wright Industries (Firmenwagen).
    Sie erstarrte, kniff die Augen zu und dachte zurück an ihr Gespräch mit Nelson, als sie morgens dort gewesen war, an den harten Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, seinen alkoholisierten Atem, die Geschichte von ihm selbst und Lydia, die täglich mit dem Zug in die Stadt gefahren waren. … Vor zwölf Jahren hatte sie ein größeres Projekt – die Eröffnung des Rose Buildings in der 57. …
    Brenna gab den Namen des Gebäudes in ihren Computer ein, stieß auf Dutzende von Einträgen und schüttelte den Kopf. Dann kam sie auf die Idee, auch noch die Worte Eröffnung, neu und Fertigstellung einzugeben, und sofort wurde die Flut der Einträge begrenzt. Sie überflog die kurzen Texte, bis sie ganz zum Schluss ins Schwarze traf. Sie rief die Presseerklärung des Erbauers zur Eröffnung auf und las sie eilig durch. Neben dem Architekten und dem Innenarchitekten wurde in dem Text auch der Bauunternehmer Roger Wright zitiert. »Der Name des Gebäudes, Rose, wurde meiner wunderbaren Schwiegermutter Lily Teasdale zu Ehren ausgewählt. Lily ist viel zu bescheiden, um zu wollen, dass dieses Gebäude ihren Namen trägt, aber ich habe das Gefühl, dass sowohl dieses Bauwerk als auch der Name ein passender Tribut an die Schönheit und die Eleganz sowohl Lilys als auch ihrer Tochter, meiner reizenden Gattin Rachel, ist.«
    Geschrieben hatte die Erklärung Lydia Neff.
    Brenna stand auf und lief den Flur hinunter. Sie musste sich erst mal beruhigen, und mit einem Mal stand sie an Mayas Zimmertür und lauschte auf das leise Schnarchen, das an ihre Ohren drang.
    Firmenwagen. Während eines Augenblicks ist der 21. Oktober 1998, und Brenna sitzt hinter dem Steuer ihres Mietwagens, während der hässlich-schöne Polizist an ihrem Fenster steht. »Sie müssen hier wegfahren«, sagt er zu ihr, und der stämmige, uniformierte Beamte, von dem sie inzwischen weiß, dass es Lane Hutchins ist, steht dabei neben ihm.
    Sie hörte Morascos Stimme: »Aber eins muss ich ihm lassen. Er hat immer schon gewusst, wie man die richtigen Leute glücklich macht.« Was eindeutig richtig war. Der hässlich-schöne Kerl, der Mann in dem blauen Wagen, der Mann, der vor Iris’ Verschwinden bei Lydia Neff gewesen war, der Mann heute Morgen vor dem Haus von Nelson Wentz, der Brenna angesehen hatte, als wäre sie ein Beutetier, der Weihnachtsmann … Er war kein Polizist. Und war auch nie einer gewesen. Er arbeitete eindeutig für Roger Wright.
    Das hatte Lydia ebenfalls getan.
    Brenna lehnte sich gegen die Wand.

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