Dornröschenschlaf
gelben, roten und blassblauen Bänder â wieder ein.
Als er allerdings ein Nadelkissen (leuchtend rot und rund wie eine Kirschtomate) in die Truhe legen wollte, stieà er auf dem Grund der Truhe nicht auf Holz, sondern auf festen Karton. Er riss seine Hand zurück. Carol hatte einen falschen Boden in die Truhe eingebaut.
Er starrte die Truhe an, atmete keuchend ein und aus, und dann griffen seine Hände wie von selbst nach all den Stoffen, Fäden, den reizenden, kleinen Vierecken, den Satinbändern, der Schere mit den Erdbeergriffen und den samtigen Nadelkissen und zerrten sie wieder heraus. Denn es waren lauter Requisiten, lauter weiche farbenfrohe Lügen, unter denen sich ein doppelter Truhenboden verbarg. Auch ihn riss er heraus, das Stück Karton, das Carol sorgfältig zurechtgeschnitten hatte, genau passend, stimmtâs? Und dann blieb er auf den Knien und beugte sich wie ein erschöpfter Läufer keuchend vor.
Guck in die Truhe. Guck hinein. Guck dir an, was sie dich all die Zeit nicht hat sehen lassen wollen.
Nelson spähte auf den Grund der Truhe, wo er einen Stapel dünner brauner Hefter liegen sah. Auf dem obersten klebte ein Zettel. GRAEME KLAVEL, hatte Carol dort mit ihrer sorgfältigen Schrift neben einer Telefonnummer notiert.
Nelson rutschte das Herz in die Hose, als er mit zitternden Händen nach dem Hefter griff.
Doch plötzlich klingelte es an der Tür, er straffte die Schultern, und als er den Hefter fallen lieÃ, rutschten ein paar Blätter heraus. Nelson sah auf die Papiere. Könnten das tatsächlich Liebesbriefe sein? Aber nein, es wirkte wie ein offizielles Dokument, und während er das zweite Klingeln an der Haustür hörte, sah er sich den Stempel auf dem Deckblatt an: POLIZEIDIENSTSTELLE TARRY RIDGE . Unter dem Datum 15. September 1998 stand: VERNEHMUNGSPROTOKOLL : LYDIA NEFF . Er wurde starr vor Schreck.
Es klingelte zum dritten Mal. »Moment!«
Lydia Neff.
Er öffnete die Tür, und vor ihm stand ein Kind. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass es Max war, der elfjährige Sohn von Gayle und Stephen Chandler, ihren übernächsten Nachbarn. Der Sohn von Gayle, die eine von den Frauen aus Carols Buchclub war. Gayle, die diesen Polizisten, Detective Morasco, hatte wissen lassen, sie hätte Carol mit einem anderen Mann an einem Tisch in einem Restaurant in Mount Temple sitzen sehen.
»Ist Carol da?«, wollte der flachsblonde Junge mit dem harten, herausfordernden Blick von Nelson wissen. Max sah ganz genau wie seine Mutter aus, stellte er fest. Und seine Mutter hatte Nelson nie gemocht. Stephen war okay â ein Finanzberater mit einem Büro im eigenen Haus, der immer gute Tipps für Geldanlagen und ein durchaus nettes Lächeln hatte, wohingegen Gayle ⦠Es hatte sie wahrscheinlich sehr gefreut, Carol mit einem anderen Mann zu sehen, obwohl es interessant war, dass sie ihrem Jungen nicht erzählt zu haben schien, dass Carol verschwunden war. Aber vielleicht hatte sie das ja. Vielleicht hatte sie ja Max geschickt, um rauszufinden, wie es Nelson ging â oder ihn dazu zu bringen, dass er wütend wurde, um danach zur Polizei zu gehen und zu erklären, dass er sich auffällig verhielt. Na dann ⦠Falls Max ihn wirklich reizen wollte, hatte er dadurch, dass er von Carol einfach als von Carol statt von Mrs Wentz gesprochen hatte, schon einmal den ersten Schritt getan.
»Mrs Wentz ist nicht zu Hause«, antwortete Nelson ihm. »Kann ich dir vielleicht helfen?«
Max starrte ihn reglos an. Seltsam, dass ihm dieser Blick so naheging. Als er selbst so alt wie Max gewesen war, hatte er keinen Erwachsenen und vor allem keinen erwachsenen Mann ansehen können, ohne dass er dabei furchtsam erschaudert war. Unweigerlich empfand er heiÃen Zorn auf diesen nicht einmal eins vierzig groÃen Knirps, weil er das Selbstbewusstsein hatte, ihn durchdringend aus seinen von Gayle geerbten Augen anzusehen, als könnte er Nelsons Gedanken lesen und als wäre er nicht einverstanden mit den Dingen, die er las â¦
Lydia, Carol? Du hast dich mit Lydia befasst? Mein Gott, das ist mehr als zehn Jahre her, und selbst damals war es nichts. Ich habe dir doch damals schon gesagt, dass zwischen uns nichts war. Habe ich dir nicht gesagt, dass zwischen uns nichts war? Hast du mir nicht geglaubt?
»Ich bin wegen der Wertstoffsammlung hier«, erklärte Max.
»Richtig.« Nelson
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