Dornteufel: Thriller (German Edition)
Störungen. Um fünf Uhr früh, nach einem Chai-Tee in der Küche ihrer Vermieterin, waren sie und Mahesh wieder auf der NH 2 in Richtung Kolkata unterwegs. Die Stunden auf dem überfüllten Highway erschienen Julia endlos. Erst am frühen Nachmittag standen sie in der Hastings Park Road in Kolkata. Julia betrachtete das Gebäude im Kolonialstil, das inmitten eines grünen Parks stand und das deutsche Generalkonsulat in Kolkata beherbergte. Die erwartete Entspannung bei diesem Anblick stellte sich jedoch nicht ein. Sie zahlte Mahesh die verabredete Geldsumme und verabschiedete sich fast widerstrebend von ihm. Irgendwie mochte sie ihn, und sein waghalsiges Manöver an der Straßensperre würde sie ihm nie vergessen. Er blieb am Straßenrand stehen und sah ihr nach, bis sie die Wachposten passiert hatte und sich auf dem Konsulatsgelände der Bundesrepublik Deutschland befand. Er hob noch einmal die schlanke braune Hand zum Gruß und brauste davon.
Julia kam sich deplatziert vor, als sie schmuddelig, verschwitzt und mit ihrer notdürftigen Habe – einer Reisetasche mit ein paar Klamotten und einer Brieftasche – die Eingangshalle betrat. Sie wurde reserviert empfangen, weil sie offensichtlich kurz vor Ende der Öffnungszeit eingetroffen war. Beinahe hätte sie darüber gelacht, da ihr all die Strapazen und Gefahren in den Sinn kamen, die sie durchlebt hatte, nur um hier anzukommen. Aber das konnte ja keiner ahnen.
Ein professionell freundlicher, wenn auch skeptischer Konsulatsangestellter klärte sie darüber auf, wie in ihrem Fall – dem Verlust des Reisepasses und damit auch der Aufenthaltsgenehmigung – zu verfahren sei. Da sie den Verlust des Passes noch nicht bei einer lokalen indischen Behörde gemeldet hatte, musste sie das unverzüglich tun, um einen First Information Report (FIR) zu erhalten. Danach konnte sie die Ersatzreisedokumente beantragen und den Verlust den deutschen Behörden melden. Dies würde über die Passstelle des Generalkonsulats laufen. Sie müsste ein Formular zweifach ausfüllen und bei ihrem nächsten Termin in der Passstelle abgeben. Anschließend würde sie einen Reiseausweis zur Rückkehr oder einen vorläufigen Reisepass ausgestellt bekommen, je nachdem, ob die Rückreise über Drittländer erfolgen sollte oder nicht. Außerdem musste sie noch ihren indischen Aufenthaltstitel erneuern, und zwar bei der für sie örtlich zuständigen indischen Ausländerbehörde, dem Foreigners Regional Registration Office . Die Adressen würde er ihr noch geben, fügte der Angestellte hinzu. Das Verfahren dauerte erfahrungsgemäß zwei bis maximal acht Tage.
Julia, die sich bislang in Geduld geübt hatte, entfuhr ein entsetzter Ausruf. Sie musste schnellstmöglich nach Deutschland. Mal davon abgesehen, dass sie hier nicht sicher war, musste sie alles Mögliche unternehmen, damit die Labors von Serail Almond überprüft wurden. Es standen Menschenleben auf dem Spiel.
Als sie dies zu erklären versuchte, wollte oder konnte der Botschaftsangestellte ihren Ausführungen nicht folgen. Er versicherte ihr, dass die Passstelle ein entsprechendes Empfehlungsschreiben für sie ausstellen würde, falls es erforderlich sein sollte. Julia machte sich klar, dass er wahrscheinlich dauernd mit aufgeregten, verzweifelten und in Bedrängnis geratenen Landsleuten zu tun hatte und sich nur seinen Weisungen und Erfahrungen entsprechend verhielt. Sie erklärte, dass sie unbedingt den Generalkonsul sprechen wollte. Zunächst wies der Angestellte dieses Ansinnen zurück, doch als sie hartnäckig darauf bestand, erhielt sie schließlich einen Termin, und zwar am nächsten Tag um elf Uhr. Dann bestellte man ihr ein Taxi, das sie in ein Hotel ihrer Wahl bringen würde.
Julia entschied sich für das Taj Bengal in der Nähe des Konsulats. Die Aussicht auf eine Fünf-Sterne-Luxusunterkunft und die damit verbundene Sicherheit waren nach den Tagen auf der Straße zu verlockend.
Als Julia ihr Zimmer im dritten Stock eines gesichtslosen Hotelblocks bezogen, ausgiebig geduscht und ein Abendessen beim Zimmerservice bestellt hatte, kamen ihr die letzten Tage irreal vor. Sie fühlte sich sicher … und genau das konnte sich als verhängnisvoller Fehler erweisen.
14. Kapitel
P ARIS , F RANKREICH
Wie schnell man in alte Gewohnheiten verfiel. Als Treffpunkt mit Paul Renard hatte Rebecca das L’Hôtel du Nord am Canal Saint-Martin vorgeschlagen. Die Teakholztische und -stühle vor dem Haus waren dunkel vor Nässe; sie sahen
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