Dornteufel: Thriller (German Edition)
verwaist und vernachlässigt aus. Rebecca kämpfte sich durch den schweren Samtvorhang am Eingang, ließ den großen Zinktresen hinter sich und stieg die wenigen Stufen zur Bibliothek hoch. Hier hatte sie oft mit Paul gesessen und Backgammon gespielt. Im Petit Salon gab es sogar W-LAN, und man war recht ungestört; eine Weile hatte Paul hier gearbeitet und sozusagen zum Inventar gehört. Rebecca fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Sie hasste dieses Gefühl der Nostalgie, das sich immer aus Freude und einer gehörigen Portion Trauer zusammensetzte. Meistens überwog die Trauer. Allerdings trank sie heute keinen Wein, sondern bestellte sich einen Kaffee mit einem Glas Wasser. Das geplante Gespräch würde ihre volle Konzentration erfordern.
Paul kam eine Viertelstunde zu spät – nicht einmal das hatte sich geändert. Rebecca musterte ihn verstohlen, wie er seinen Schirm einklappte, den Wirt begrüßte und sich dann in dem dämmrigen Raum nach ihr umsah. Paul war nicht sehr groß, und obwohl er inzwischen auf die vierzig zuging, war auch seine Figur gleich geblieben und kein Gramm überflüssiges Fett an ihm dran. Sein Kleidungsstil hatte sich ebenfalls nicht geändert: nachlässig und stets nur in dunklen Farben, die sich am nassen Pariser Asphalt orientierten. Sein Haar war in der Mitte gescheitelt und reichte ihm fast bis zum Kinn, und er trug nun einen schmalen Bart, der seinen Mund umrahmte. Als er sie entdeckte und bei der Begrüßung auf die Wangen küsste, versetzte sie sein typischer Geruch nach Gauloises, einem herben Aftershave und ihm selbst einen kleinen Stich.
» Mon cœur , wie komme ich zu dieser Ehre?«
»Wir haben uns lange nicht gesehen, Paul.«
Er musterte sie lächelnd. »Ich habe dich auch vermisst. Du siehst bezaubernd aus, wie immer. Aber du hast Sorgen, ma jolie . Womit kann ich dir helfen?«
Sie hatte fast vergessen, dass er immer direkt zur Sache kam. Und dass er Schwierigkeiten roch wie ein Trüffelschwein.
»Es geht um Serail Almond.«
»Den Kosmetikkonzern?« Paul winkte dem Kellner und bestellte sich einen Weißwein. Dann fragte er sie etwas verspätet nach ihren Wünschen, doch sie winkte ab.
»Ist Serail Almond dein Kunde?«, erkundigte er sich.
»Nein, ich bin … persönlich betroffen.«
Pauls haselnussfarbene Augen weiteten sich. »Also wirklich, wie konnte das passieren? Deine neueste Eroberung?«
»Eher ein guter Freund«, antwortete sie ausweichend.
»Verstehe. Und wie komme ich ins Spiel?«
»Serail Almond steckt in Schwierigkeiten. Und es müssen ernsthafte Schwierigkeiten sein, wenn dafür Jachturlaube an der Côte d’Azur mit der Geliebten geopfert werden.«
»Das tut mir leid für dich, mon cœur . Und du bist sicher«, er senkte die Stimme, »dass nicht ein gewisser Überdruss des Freundes gegenüber seiner Geliebten eine Rolle spielen könnte?«
»Gegenüber seiner Geliebten vielleicht. Aber die Jacht ist sein Ein und Alles. Sein Lebenssinn und -zweck.«
»Reden wir hier von der Aurelie? «
Verdammt, Paul war gut. Aber was hatte sie erwartet? Das würde es leichter machen und seine Erfolgschancen erhöhen. »Exakt. Stattdessen wird Noël Almond in Hamburg an irgendwelchen Krisensitzungen teilnehmen.«
»Im Prinzip ist eine Krise immer gut.« Paul ergriff das Glas Wein, das gerade vor ihm hingestellt worden war, und trank einen Schluck.
Er beugte sich vor, sodass sie im Ausschnitt seines Hemdes das Lederband sehen konnte, an dem, wie sie wusste, ein flacher, rechteckiger Metallanhänger hing. Es stand ein Zitat darauf, irgendwas mit »Ideen«, aber sie erinnerte sich nicht mehr an den genauen Wortlaut.
»Ich lebe von den Krisen anderer Leute«, fuhr er fort. »Aber jeder weiß, dass Noëls Frau, Catherine Almond, bei Serail Almond die Zügel in der Hand hält. Die meistert jede Art von Krise ganz allein. Ich bin ihr einmal begegnet. Und ich weiß nicht, ob ich das ein zweites Mal riskieren würde.« Er lehnte sich wieder zurück.
»Der tapfere Paul hat Angst vor einer Frau?«
»Oh, ich bin ein Hasenfuß, was das angeht.« Er hob die Hände. »Es geht das Gerücht um, Catherine Almond verspeise Menschenherzen zum Frühstück. Man nennt sie auch ›die Kalte‹, nach Shitala, der indischen Pockengöttin.«
Rebecca meinte tatsächlich eine Spur Besorgnis in seinem Gesicht zu sehen. »Catherine macht mir keine Angst«, behauptete sie mit fester Stimme.
»Trotzdem solltest auch du dich von ihr fernhalten. Dein Herz ist zu schade für eine
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