Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
eher abgeflacht. Es hatte etwa die Größe einer getrockneten Bohne oder – ein Vergleich, der mir näherlag – einer Made, die vor vier oder fünf Tagen aus dem Ei einer Schmeißfliege geschlüpft war. Ich glaubte, stumpfes Metall aufschimmern zu sehen, als Garcia die Oberfläche sauber rieb.
»Miranda, haben Sie die Leiche geröntgt, bevor Sie ihr die Kleider ausgezogen haben?«
»Ja«, sagte sie, »aber entweder ist der Röntgenapparat im Eimer, oder wir haben eine Partie schlechter Filme bekommen. Die Bilder sind alle verschleiert.«
Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. »Eddie, legen Sie das weg und treten Sie zurück«, sagte ich. »Alle zurücktreten.«
Garcia schaute zu mir auf, verdutzt, erstarrt, das kleine Pellet noch zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine Hand war höchstens dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und von Mirandas Gesicht auch nicht viel weiter. In Mirandas Augen sah ich die Erkenntnis dämmern, und hinter der OP-Maske sah ich den ovalen Umriss ihres offenen Mundes, als sie nach Luft schnappte. Bevor ich sie daran hindern konnte, streckte Miranda die Hand aus, nahm Garcia das Pellet aus der Hand und warf es in das Edelstahlwaschbecken. Dann trat sie vom Arbeitstisch zurück und zog Garcia mit sich. Sie zerrte so lange an ihm, bis wir den Sektionssaal verlassen hatten und im Flur waren, wo ein aschfahler Jim Emert auf einem metallenen Klappstuhl saß. Emert stand auf und sah in unsere Gesichter. Was er dort sah, veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen und in den Sektionssaal zu blicken. Während sich die Stahltür schloss, starrten wir vier weiterhin auf das Waschbecken, als lauerte darin etwas Unheilvolles. Ein Monster. Eine Bombe. Ein radioaktives Bröckchen, so stark, dass es unsere Röntgenfilme zerstört hatte. Radioaktivität, so tödlich, dass sie in den Stunden oder Tagen, die dieses winzige Pellet gebraucht hatte, um durch seinen Magen und seine Eingeweide zu wandern, Leonard Novaks innere Organe verbrannt und ihn getötet hatte.
5
Sobald Miranda Eddie Garcia das kleine Metallpellet aus der Hand gerissen und in das Waschbecken geworfen hatte, waren sie, Garcia und ich aus dem Sektionssaal geeilt und hatten im Flur eine kurze Krisenkonferenz abgehal ten. Detective Emert, der vor Übelkeit immer noch aschfahl war im Gesicht, wurde noch eine Spur bleicher, als er uns über Radioaktivität und die Evakuierung des Krankenhauses diskutieren hörte.
Einerseits waren wir uns nicht sicher, ob das Pellet wirklich radioaktiv war, also wollten wir auch nicht unnötig Alarm schlagen. Andererseits wollten wir nicht Menschen in Gefahr bringen, und das Risiko schien zu bestehen, falls Novak tatsächlich an einer radioaktiven Vergiftung gestorben war.
Ich hatte weder das Pellet noch die Leiche berührt, zumindest nicht, nachdem die Obduktion begonnen hatte, also schien das Risiko der Kontamination bei mir geringer als bei Miranda oder Garcia. Ich ging zu einem Wandtelefon im Flur, nahm den Hörer und wählte die Nummer von Lynette Wilkins, der Empfangsdame an der Rezeption des Leichenschauhauses. »Lynette«, sagte ich so ruhig wie möglich, »hier ist Dr. Brockton. Ich bin zusammen mit Dr. Garcia und Miranda Lovelady und einem Polizeibeamten der Polizei von Oak Ridge im Flur vor dem Sektionssaal. Könnten Sie bitte alle Mitarbeiter des rechtsmedizinischen Instituts zusammentrommeln und mit ihnen zur Vordertür hinaus in den Keller des Krankenhauses gehen?«
»O Gott«, sagte sie. »Ist da hinten ein Spinner mit einer Waffe? Sie müssen nur ›Ja‹ sagen, dann rufe ich eine Spezialeinheit.«
»Nein, nein«, sagte ich, »nichts dergleichen. Die einzigen Verrückten hier hinten sind wir. Wir haben womöglich eine kontaminierte Leiche, und wir möchten sichergehen, dass wir niemanden sonst einer Verseuchung aussetzen.«
»Soll ich das Sonderabfall-Team vom Krankenhaus rufen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir es mit gefährlichen Stoffen zu tun haben«, sagte ich. »Miranda macht gerade einen Anruf, der uns helfen müsste dahinterzukommen. Sorgen Sie nur dafür, dass alle ruhig hinausgehen, ja?«
»Selbstverständlich, Dr. B.«
»Und, Lynette?«
»Ja?«
»Schließen Sie die Tür hinter sich ab. Und hängen Sie ein BETRETEN VERBOTEN-Schild auf.«
»Allmächtiger Gott. Seien Sie bloß vorsichtig.«
Miranda hatte Hank angerufen, den Strahlenschutzexperten, der zum DMORT-Team gehörte. Hank war auf dem Rückweg von Oak Ridge, aber er würde noch mindestens dreißig oder
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