Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
vorkam. Wenn man sich damit einverstanden erklärte, bekam man voradressierte Umschläge und leere Briefkarten, und wenn einem etwas oder jemand verdächtig vorkam, musste man nur den Namen und das, was er oder sie getan oder gesagt hatte, auf die Karte schreiben und in den Briefkasten werfen. Wenn alles unauffällig war, schickte man eine leere Karte. Jedem Hinweis wurde nachgegangen.«
Miranda lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und kaute ein wenig auf ihrer Unterlippe herum. Wenn sie das tat, lag meiner Erfahrung nach Streit in der Luft. »Inwiefern verdächtig? ›Der und der baut im Keller Bomben‹-verdächtig? Oder ›Der und der trägt gern die Unterwäsche seiner Frau‹-verdächtig?«
»Wahrscheinlich beides«, sagte er. »Ein Vorfall, von dem ich gehört habe, betraf einen Mann, der eines Tages beim Mittagessen darüber schwafelte, dass das sowjetische Regierungssystem besser sei als das amerikanische. Ein, zwei Tage später ging bei Acme eine Nachricht ein, und der Typ war verschwunden – man hatte ihm seine Entlassungspapiere in die Hand gedrückt und ihm gesagt, er brauche nicht mehr wiederzukommen.«
»Was ist aus der Redefreiheit geworden?« Miranda schüttelte den Kopf. »Klingt mir ganz wie Ostberlin während des Kalten Krieges, wo die Menschen ihre Freunde und Nachbarn bei der Stasi verpfiffen haben.«
»Ach, kommen Sie«, sagte Thornton. »Wir waren mitten in einem schrecklichen Krieg. Einem globalen, apokalyptischen Krieg. Geheimkodes, Spione, Sabotage – das war die Wirklichkeit, darum sorgte man sich aus gutem Grund. Eine leichte Verletzung der Bürgerrechte in einer streng geheimen militärischen Einrichtung scheint mir eines der geringeren Übel des Zweiten Weltkriegs zu sein.«
»Kinder, Kinder«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht zanken.« Ich hörte, wie Miranda tief Luft holte, und dann sah ich, dass sie sich entspannte, was bedeutete, dass auch Thornton und ich uns entspannen konnten. »Hat die Armee eine Akte, die uns verraten kann, warum Leonard Novak zu dem Zeitpunkt, als er ermordet wurde, Bücher über Spionage gelesen hat?«
»Das hoffe ich«, sagte er. »Wir haben Leute darauf angesetzt, die Venona-Abschriften zu sichten, ob sie irgendeine Verbindung zu Novak finden.«
Miranda sah uns verwirrt an. »Venona war der Kodename für eine groß angelegte Spionageabwehroperation«, erklärte Thornton. »Zwischen 1944 und 1948 hat die Behörde, die jetzt den Namen NSA – National Security Agency – trägt, tausende von Telegrammen, die von sowjetischen Konsulaten überall in der Welt nach Moskau geschickt wurden, abgefangen und dekodiert. Das meiste war langweiliges, bürokratisches Zeug. Doch einige, besonders die von New York nach Moskau, waren Spionageberichte. Sie haben Kodenamen für Menschen und Orte benutzt – die Botschaften waren kodiert, und die Namen waren innerhalb dieses Kodes noch einmal kodiert, doch die Dechiffrierung der meisten ist gelungen. Eine erstaunliche Großtat, wirklich, denn die Sowjets benutzten komplizierte Kodes, die sie jeden Tag wechselten. Entzifferer haben besondere Zahnräder in ihrem Kopf – wie Physiker –, mit deren Hilfe sie Dinge erfassen können, die für uns einfache Sterbliche einfach keinen Sinn ergeben. Wie auch immer, eine der interessantesten aufgefangenen Meldungen war Telegramm 940 …«
»Telegramm 940? Das gefällt mir«, fiel Miranda ihm ins Wort. »Es klingt ja sogar nach Spionagethriller.« Sie beugte sich über den Tisch, ganz gespannte Aufmerksamkeit. Thornton lächelte, erfreut, dass er sie für sich eingenommen hatte, oder erleichtert, dass sie vom hohen Ross der Bürgerrechte heruntergekommen war.
»Telegramm 940 wurde im Dezember 1944 abgeschickt«, sagte er. »Es listete siebzehn Wissenschaftler auf, die an dem arbeiteten, was man ›das Problem‹ nannte. Unter den Namen waren Enrico Fermi, Hans Bethe, Niels Bohr, George Kistiakowsky, Ernest Lawrence, Edward Teller, John von Neumann und Arthur Compton – einige der besten Köpfe des Manhattan-Projekts.«
Ich hielt eine Hand hoch und musste damit praktisch zwischen Thornton und Miranda hin und her wedeln, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Einige dieser Namen kenne ich«, sagte ich, »aber nicht alle. Fermi war derjenige, der den kleinen Reaktor unter dem Stadion in Chicago zusammengeschustert hat. Aber Bethe und Bohr … Da müssen Sie mir auf die Sprünge helfen. Physiker?«
»Richtig«, sagte er. »Sie waren in der ›Theorieabteilung‹ in Los Alamos.
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