Dr. med. Erika Werner
Plattner eintraten. Als der Rechtsanwalt um die weiße Wand sah, erschrak er. In den Kissen lag eine gelbliche Mumie, mit offenen Augen, schlohweißem, schütterem Haar und Armen und Händen, die einem mit Haut überzogenen Gerippe glichen.
»Der Rechtsanwalt, Schwester Lutetia«, sagte die Oberin sanft. »Sollen wir dich allein lassen?«
»Bitte«, wehte es aus den Kissen her. Brüchig, zitternd, aber deutlich vernehmbar.
Die betenden Schwestern gingen hinaus. Die Oberin schob Dr. Plattner einen Stuhl ans Bett und deutete auf einen Tisch hinter ihm an der Wand.
»Dort finden Sie Papier und einen Kugelschreiber. Wenn Sie fertig sind, läuten Sie bitte.«
Dr. Plattner wartete, bis die Tür zugezogen war. Dann beugte er sich zu der Sterbenden vor und sah ihr in das Mumiengesicht.
»Sie wollten etwas sagen, Schwester?« fragte er leise. Ihn erschütterte der Anblick dieses vergehenden Menschen ungemein. Wie werde ich einmal sterben, dachte er plötzlich. Welch ein Segen, daß man das nicht vorher weiß.
Schwester Lutetia richtete die großen Augen auf ihn.
»Sie sind Rechtsanwalt?« fragte sie.
»J a, Schwester. Zwar noch ein junger … aber Sie können volles Vertrauen haben.«
»Ich habe eine Aussage zu machen … eine große Aussage. Und ich möchte mit dieser Last auf dem Herzen nicht sterben. Ich werde es auch dem Pfarrer sagen. Ob Gott es mir verzeihen wird?«
»So schwer kann es nicht sein, Schwester.« Dr. Plattner hatte einen Kloß im Hals. »Wenn ich Ihnen helfen kann –«
»Sie können es.« Schwester Lutetias Augen wurden noch weiter. Ihre schmalen, blutleeren Lippen zuckten. »Ich habe einen Schuldigen gedeckt … ich habe ihn nicht verraten … ich habe mit angesehen, wie ein Unschuldiger verurteilt wurde … und ich habe geschwiegen.«
Dr. Plattner fühlte es unter seiner Hirnschale glühendheiß werden. Er umklammerte den Kugelschreiber, als sei er aus schwerem Blei und rutsche aus seinen Fingern.
»Das … das ist doch nicht möglich, Schwester«, sagte er heiser vor Erregung.
»Doch! Mich hatte niemand gefragt … und da habe ich geschwiegen. Das ist meine große Schuld.«
»Und … wann war das?«
»Vor etwa eineinhalb Jahren … Hier im Haus … Es … es ging um Doktor Bornholm.«
»Das ist doch nicht möglich«, stotterte Dr. Plattner.
Die Sterbende starrte an die Decke. Ihr Mumiengesicht zuckte. Unruhig fuhren ihre Skeletthände über die Bettdecke.
»Es war in der Nacht. Ich habe Doktor Bornholm gesehen … Ich … ich will Ihnen alles erzählen, Herr Rechtsanwalt.«
Eine dumpfe Stille lag in dem kleinen Raum. Draußen vor der Tür, auf dem Gang, beteten die Schwestern um das Seelenheil der Sterbenden. Dr. Plattner starrte in das faltige Gesicht mit der pergamentenen Haut. Hier lag der Unschuldsbeweis Dr. Erika Werners … und er starb. Wenn Schwester Lutetia nicht mehr die Kraft besaß, alles zu erzählen und hinterher ihre Aussage zu unterschreiben, würde die Wahrheit mit ihr sterben.
Dr. Plattner beugte sich zu der Sterbenden vor.
»Bitte, sprechen Sie, Schwester«, sagte er leise, aber eindringlich. »Sie retten einen Menschen damit.«
»Ich hatte keinen Nachtdienst«, sagte Schwester Lutetia. Sie starrte beim Sprechen an die weiße Decke, dann wanderte ihr Blick zur Wand, wo über dem Tisch ein holzgeschnitztes Kruzifix hing. »Als ich schon im Bett lag, fiel mir ein, daß ich im Labor den Giftschrank nicht abgeschlossen hatte. Seit dreißig Jahren habe ich jeden Abend den Schrank abgeschlossen … nur an diesem Abend nicht. Ich hatte große Angst, man könne es merken. Da stand ich auf und ging hinunter zum Labor.«
Rechtsanwalt Dr. Plattner schrieb es Wort für Wort mit. Er konnte es in deutlicher Schrift tun, denn Schwester Lutetia sprach langsam, stockend, oft sich unterbrechend und nach Atem ringend.
»Bitte weiter«, sagte Dr. Plattner leise. Er sah mit Sorge auf die verfallenden Züge der Sterbenden.
»Als ich zum Labor ging, sah ich aus dem Fenster. Da lief ein Mann mit einem Mädchen an der Hand durch den Garten, auf die Hintertür zum Keller zu. Ich stellte mich in eine Nische des Ganges, ganz in den Schatten. Kurz darauf kam der Mann durch den Gang gelaufen, das Mädchen immer noch an der Hand. Ich erkannte ihn, als er am Fenster vorbeiging. Es war unser Oberarzt Doktor Bornholm.«
Der Kugelschreiber in Dr. Plattners Hand wurde wie ein Zentnerblock. »Bitte, Schwester … wiederholen Sie das noch einmal.«
»Es war unser Oberarzt Dr. Bornholm. Ich
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