Drachenauge
Takt zu klopfen.
»Es kann doch nicht so schwer sein, einen Weg zu
finden, um ein sich periodisch wiederholendes kos—
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misches Phänomen darzustellen«, sagte er in dem Versuch, Sheledons und Danjas Empörung zu beschwich—
tigen.
Ȇber den Schwierigkeitsgrad mache ich mir keine
Gedanken«, gab Danja gereizt zurück. »Aber wie sollen wir die Zeit für diese Arbeit erübrigen?« Mit dem Finger zeigte sie auf den noch unfertigen Anbau des Kollegiums. »Vor allen Dingen, weil es einen festen Termin einzuhalten gilt«, erklärte sie mit einem giftigen Blick auf Clisser. »Die Wintersonnenwende.«
»Ach ja.« Lozell verzog das Gesicht. »Ein plausibler Einwand.«
»Momentan widmen wir uns in jeder freien Minute,
in der wir nicht unterrichten, dringenden Aufgaben«, fuhr Danja fort. Heftig gestikulierend schritt sie vor dem Tisch auf und ab. Während Sheledon sich innerlich abkapselte, wenn irgendein Problem ihm zusetzte, entwickelte Danja eine überbordende Aktivität. Vor lauter Nervosität stieß sie gegen den Stuhl, auf dem ihre Geige lag, und hastig griff sie zu, damit das kostbare Instrument nicht auf den Boden fiel. Dabei starrte sie Lozell so grimmig an, als sei er für den Vorfall verantwortlich.
Sheledon nahm ihr die Geige nebst Bogen ab und legte beides vorsichtig auf den Tisch, von dem das Geschirr bis auf die Weingläser abgeräumt war. Geistesab-wesend wischte er etwas verschütteten Wein von der
Tischplatte, damit ja nichts die wertvolle Violine gefährdete, einer der wenigen noch brauchbaren Gegenstände aus der Hinterlassenschaft der ersten Siedler. Während Danja weiter lamentierte, strich er mit den Fingerspitzen wie liebkosend über das Instrument.
»Heute zum Beispiel«, fuhr sie fort, ihre Wanderung aufs Neue aufnehmend, »gaben wir morgens Unterricht und gönnten uns mittags nur einen Happen zu
essen, ehe wir den Nachmittag mit Malerarbeiten
verbrachten, damit zum Sommersemester wenigstens
ein paar Räume bezugsfertig sind. Uns blieben gerade 65
mal fünf Minuten, um uns saubere Kleider anzuziehen, und … selbst dann noch haben wir die Luftparade verpasst, die ich …« – sie blieb stehen und bohrte sich den Daumen in ihre Magengrube – »zu gern gesehen hätte.«
»Wir haben zwei Arrangements gespielt«, ergänzte
sie, »und werden mit Sicherheit die ganze Nacht hindurch musizieren, bis Sonnenaufgang. Morgen geht das Fest weiter, nur dass es keine Konferenz gibt. Ich frage mich, wann wir schlafen sollen! In einer Woche beginnt das neue Semester, und dann haben wir überhaupt keine Zeit mehr, weil wir Vorbereitungsseminare für die graduierten Lehrkräfte abhalten, ehe sie aufbrechen, um auch den letzten Winkel des Kontinents zu alphabe-tisieren.« Sie vollführte eine manierierte Geste, dann warf sie sich auf den Stuhl, auf dem kurz zuvor ihre Violine gelegen hatte. »Und nun verraten Sie mir, Clisser, woher wir die Zeit für zusätzliche Forschungen nehmen sollen!«
»Wenn es sein muss, kann man immer etwas Zeit er-
übrigen«, erwiderte er in betont sachlichem Ton, der eine unterschwellige Kritik an Danjas überzogenem
Auftritt darstellen sollte.
»Man könnte das Thema im Geschichtsunterricht
behandeln«, schlug Lozell vor.
»Eine ausgezeichnete Idee«, pflichtete Bethany ihm
bei, die sich bis jetzt mit der Zuschauerrolle begnügt und Danjas theatralische Szene stumm beobachtet hatte. »Meinen Schülern würde ein Projekt, an dem sie
ihren Einfallsreichtum selbständig üben können, nur gut tun.«
»Zuerst sollten wir dafür sorgen, dass die Bibliothek ständig mit Energie versorgt wird«, warf Danja säuerlich ein.
»Kein Problem«, trumpfte Clisser auf. »Während der
Luftparade haben Kalvis Techniker die Sonnenpaneele repariert. Morgen schließen sie sie an das Hauptaggre-66
gat an. Außer Ihnen haben noch weitere Leute gearbeitet, müssen Sie wissen.«
»Das ist mir ein großer Trost«, versetzte Danja zynisch.
Clisser füllte ihr Glas nach. »Außerdem brauchen wir eingängige Melodien und gute Texte. Von klein auf sollen die jungen Leute die Vorzeichen kennen lernen, an denen man das Näherkommen des Roten Sterns erkennt. Es muss ihnen so in Fleisch und Blut übergehen, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommen, dieses Phänomen infrage zu stellen.«
»›Eins plus eins sind zwei, zwei plus zwei sind
vier?‹«, trällerte Danja das alte Rechenlied und grinste hämisch.
»Ein Lied ist und bleibt ein höchst effektives
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