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Drachenboot

Drachenboot

Titel: Drachenboot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Low
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Onkel?«, kicherte Wladimir. »Ich kenne sogar zwei solcher Brüder.«
    Olaf lächelte und fuhr fort, leise, ungerührt und unwiderstehlich. »Die Sterne am Himmel waren kaum verblichen, das Fleisch in den Kesseln war noch nicht gekocht, die kostbaren weißen Decken noch nicht ausgebreitet und das Brot noch nicht gebacken, als man in Silberglöckchens Hof lautes Hufgetrappel hörte. Der Prinz war angekommen. Wortlos und ohne jemanden anzusehen, stieg er vom Pferd und ging, ohne zu grüßen, zu dem Kranken. Die Kleider des Prinzen waren äußerst kostbar und enthielten so viel Silber, dass sie mindestens achtzig Pfund wogen. Den ganzen Tag über, vom Morgenrot bis zur Abenddämmerung,
saß der Prinz bei dem kranken Mann, ohne sich zu regen und ohne zu sprechen – aber es wurde klar, dass Silberglöckchen nicht zu ihm kommen würde, und wegen dieser Unhöflichkeit wurde der Prinz immer zorniger. Spät am Abend stand der Prinz auf, zog seine edle Kappe aus Zobelfell tief in sein mürrisches Gesicht und sagte: ›Jagt Silberglöckchen fort, sie ist von einem bösen Geist besessen. Solange sie im Hause ist, wird ihr Vater von seiner Krankheit nicht genesen, und das Unglück wird nicht aus diesem Tal weichen. Kleine Kinder werden für immer einschlafen, und ihre Großeltern werden unter Qualen sterben.‹«
    Dobrynja ließ ein warnendes Knurren hören, selbst Sigurd rutschte unruhig auf seinem Platz. Wladimir sagte nichts, aber Olaf schien das alles gar nicht zu bemerken. Mir lief der Schweiß über den Rücken, und ich merkte, wie er gefror. Er würde wieder dafür sorgen, dass wir alle doch noch zum Pfählen Schlange stehen müssten …
    »Die Frauen im Lager fielen vor Angst zu Boden«, fuhr Olaf fort. »Die alten Männer bedeckten vor Trauer das Gesicht mit ihren Händen. Die jungen Männer sahen zu Silberglöckchen, dabei wurden sie bald rot, bald blass. Der Prinz lächelte geheimnisvoll. ›Steckt Silberglöckchen in ein hölzernes Fass‹, gebot er. ›Legt neun Eisenringe darum und nagelt den Deckel mit kupfernen Nägeln darauf. Dann werft das Fass in den reißenden Fluss.‹ Als er das gesagt hatte, ritt er zurück zu seiner Halle in seiner schönen, großen Burg und rief seine Sklaven zu sich. ›Geht zum Fluss‹, sagte er. ›Im Wasser wird ein großes Fass angeschwemmt werden. Holt es heraus und bringt es her, dann lauft in die Wälder. Wenn ihr Weinen hört, dreht euch nicht um. Wenn die Wälder von Wehklagen widerhallen, seht euch nicht um. Und kommt nicht eher als nach drei Tagen hierher zurück.‹ Es dauerte neun Tage und
neun Nächte, ehe die Leute im Lager sich dazu entschließen konnten, die Befehle des Prinzen auszuführen. Neun Tage und neun Nächte lang verabschiedeten sie sich von dem Mädchen. Am zehnten Tag setzten sie Silberglöckchen in das Fass, legten neun Eisenringe darum, vernagelten es mit Kupfernägeln und warfen das Fass in den reißenden Fluss.«
    »Das klingt wie eine gerechte Strafe für jemanden, der einen Prinzen beleidigt«, bemerkte Dobrynja. Wladimir runzelte die Stirn, und ich schluckte mühsam.
    »Es ist ein Märchen über Odin«, erklärte ich, und Sigurd hob bei dieser offensichtlichen Lüge verwundert den Kopf.
    »Wirklich?«, fragte Wladimir, und die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer. »Der Prinz scheint aber gar nicht sehr göttlich.«
    »Er ist ein Meister der Täuschung«, gab ich zu. »Seine Gaben sind immer verdächtig. Erinnere dich nur an die Geschichte von den neun Sklaven und dem Schleifstein …«
    Ich merkte, dass ich sinnloses Zeug plapperte und verstummte. Olaf sah mich mit seinen verschiedenfarbigen Augen völlig ausdruckslos an und räusperte sich.
    »An dem Tag«, nahm Olaf den Faden seiner Geschichte wieder auf, »also, an dem Tag, an dem das Fass in den Fluss geworfen wurde, war der Jäger, der Silberglöckchen liebte, gerade dabei, seine Fallen zu untersuchen. Er sah das Fass, fing es ab und zog es aus dem Fluss. Dann nahm er eine Axt und schlug den Boden heraus. Als er Silberglöckchen sah, fiel ihm die Axt aus der Hand, und sein Herz hüpfte vor Freude wie ein Grashüpfer. Schließlich fragte er: ›Wer hat dich in dieses Fass gesteckt?‹ Sie erzählte ihm alles. Der Jäger dachte einen Augenblick nach, dann ging er zu seinen Fallen, wo ein riesiger Wolf, weiß wie Silber, ihn böse anfunkelte und dann fortfuhr, seine eigene
Pfote durchzubeißen. Normalerweise hätte der Jäger ihn jetzt mit einem Schlag auf den Kopf getötet; aber

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