Drachenboot
getrennt gewesen, das war alles. Und als wir ihn zurückgelassen hatten, war er noch ein Junge gewesen. Als ich das sagte, nickte er, noch immer beschämt.
»Ihr seht aus wie die Kerle in den Geschichten, die die Priester erzählten – wilde Gesellen, die stinken und ihre Zeit damit zubringen, indem sie andere umbringen und wehrlose Frauen vergewaltigen.«
»Nicht alle sind ganz wehrlos«, versuchte ich zu scherzen, aber sein Grinsen verschwand bald wieder.
»Ich bin ein Grieche, der kein Grieche mehr ist, der in den Reihen der Varjazi kämpft und doch kein Nordmann ist. Aber ich habe meine eigenen Vorstellungen, wie mein Leben einmal aussehen soll.«
Das war richtig, und jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, war der Schmerz darüber so stark und machte mich so hilflos, dass er schließlich in Ärger umschlug. Ich erinnerte Jon Asanes daran, dass wir ihn immer gut behandelt hatten. Egal, wie sich sein Leben gestaltete, er würde es immer uns verdanken.
Er sah mich mit seinen dunklen Augen an.
»Ihr kamt nach Zypern, und was ihr dort gemacht habt, hat meinen Bruder das Leben gekostet und mich gezwungen, mit euch in das glutheiße Serkland zu ziehen. Ich wurde von einem Pfeil getroffen und bin fast daran gestorben, dann wurde ich aus der Heimat, die ich kannte, in den fernen Norden verschleppt, in ein bitterkaltes Land voll ungewaschener Menschen, die sich in Tierfelle kleiden.«
Seine Worte waren hart, und ich sah ihn erschreckt an, aber er war noch nicht fertig.
»Ich musste mich bis vor Kurzem fügen, aber ich hatte Pläne – bis du wieder in meinem Leben auftauchtest. Und kaum war ich wieder bei euch, war ich auch schon in Gefahr, gepfählt zu werden. Und jetzt bin ich hier, in dieser kältestarren Öde, wo ich vielleicht umkommen werde.«
Er schwieg und lächelte traurig. »Ist das die gute Behandlung, von der du sprichst? Dann möchte ich nicht deine schlechte Behandlung kennenlernen, Händler.«
Mein Zorn war verflogen, stattdessen empfand ich jetzt Trauer und ein Gefühl des Verlustes. Egal, was die Zukunft
bringen würde, der Ziegenjunge würde sie nicht mit uns teilen.
Wie Gunnar, mein leiblicher Vater, oft sagte: Alles, was du zum Leben brauchst, muss in eine Seekiste passen; alles Übrige soll man zurücklassen. Wie alle einfachen Regeln war auch diese nicht vollkommen, denn sie sagte nichts über die Bindung an Menschen. Das hatte er schließlich auch gemerkt, denn er hatte es nicht fertiggebracht, mich zurückzulassen.
»Trotzdem wäre es schön«, sagte Jon Asanes wehmütig, »wenn ich auch auf eurem Runenstein stehen könnte, so wie alle anderen.«
Ich nickte, sprechen konnte ich nicht. Runen auf einem Stein oder ein gut gedichteter Vers. Das war der Grund, warum niemand hier in einem Bett zurückgelassen werden wollte – nur wer aufrecht seinen Mann stand, wurde von den Skalden geehrt, es sei denn, er war einen außergewöhnlichen Tod gestorben.
Finn hatte sich, wie es schien, für einen solchen Tod entschieden.
Wir standen in der Morgendämmerung und beobachteten ihn: Finn stand da – Nordmänner knien selbst vor Göttern nicht –, barhäuptig und nach Norden gewandt. So streute er bestes, reinstes Salz in einen Becher Schmelzwasser, den er Odin widmete, wobei er sämtliche Namen Allvaters rezitierte. Schließlich stieß er den Godi in den Boden, beugte den Kopf, umklammerte den Griff und legte seinen schaurigen Eid ab, wie er es dem Gott in der Grube in Nowgorod versprochen hatte.
Ich empfand einen dumpfen, undeutlichen Schmerz, eine Erinnerung an mich selbst im gleichen Alter wie Jon Asanes, wie ich in dem ersten langen Winter, den ich mit den Eingeschworenen in Skirringsaal verbrachte, Sklavinnen
nachgejagt war, während Einar Pläne machte und mich beobachtete. Hatte Einar denselben Schmerz empfunden? Er war genauso verschlossen und einsam gewesen.
Seit meinem zwanzigsten Geburtstag waren fast zwei Jahre vergangen, aber ich hatte das Gefühl, als lägen hier in der gefrorenen grauen Erde Steine, die jünger waren als ich.
Zwei Tage später schleppten wir uns wieder in die leicht verschneite Wildnis hinaus und ließen das Dorf hinter uns. Und ein Stück Erde, das wie ein Schiff geformt war, die letzte Ruhestätte von Hasenscharte und Dorschbeißer.
Eine messingfarbene Sonne versuchte, sich am bleiernen Himmel durchzusetzen, und blitzte hin und wieder zwischen den Stämmen des Birkenwaldes auf, dessen struppige, kahle Äste kaum höher aufragten als ein Mann auf einem
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