Drachenboot
als die Wächter uns wieder in die Grube stießen. Die zweite Sklavin heulte Rotz und Wasser und musste von Thordis und Thorgunna gestützt werden.
Finn lachte bitter, das einzige Lachen, das jetzt noch möglich war, nach dem Gelächter, das uns aus der Grube befreit und schließlich wieder hierhergebracht hatte. »Elender Wicht«, murmelte er und warf einen bitteren Blick zurück, dorthin, wo Krähenbein neben seinem neuen Onkel stand.
In der Dunkelheit der Grube hörte ich noch immer Gelächter. Ich wusste auch, wer es war, jedoch nicht, worüber
er jetzt noch lachte. Es schien mir, als treibe mich Odin wie eine Knarr vor dem Wind zurück zu Attilas Silberberg – wobei er jedoch immer dafür sorgte, dass wir ihn nie erreichen würden. Das war selbst für seine Verhältnisse ein außergewöhnlich raffinierter Plan.
»Ich werde nicht wie ein Neiding an so einem Pfahl sterben«, knurrte Finn, und Kvasir war derselben Meinung. In der stinkenden Dunkelheit brüteten die beiden über einem Plan, wie sie entkommen und mit ehrlichen Waffen in der Hand bis zum Tod kämpfen wollten. Die Frauen schwiegen, und Martin murmelte Gebete.
»Bist du noch da, Jon Asanes?«, fragte Kvasir, und ich hörte, wie Jon mit zitternder Stimme antwortete.
»Ja – aber ich bin kein großer Kämpfer.«
»Orm?«, brummte Finn. Ich antwortete nicht und wünschte mir, er würde aufhören zu reden, denn ich hörte etwas Merkwürdiges, ein Geräusch …
»Bei Odins Knochen, Junge, du bist unser Jarl. Gehst du voran?«
Noch immer hörte ich das Gelächter aus der Ferne.
Odin …
»Vielleicht hat er sich eingeschissen«, brummte Finn, und Kvasir schnauzte ihn an, er solle gefälligst aufpassen, was er sage. Doch auch er selbst war verunsichert und fügte ganz leise hinzu, es habe mir vielleicht vorübergehend die Sprache verschlagen.
»Glocken«, sagte ich. Jetzt hatte ich den Klang erkannt. »Die Glocken läuten.«
Das war es. Tief und voll klang es, wie Wasser, das über eine Klippe stürzt.
In der Dunkelheit konnte ich ihre Gesichter nicht erkennen, aber ich sah, wie sich ihre Köpfe mir zuwandten. Glockengeläut in Nowgorod, das hatte etwas zu bedeuten. In
mir stieg eine Ahnung hoch, und ich bekam eine Gänsehaut, denn ich hatte ein Gefühl, als sei Odin soeben dicht an uns vorbeigegangen.
Als die Dämmerung silbergrau heraufzog und auch in unsere Grube fiel – vielleicht die letzte Morgendämmerung, die wir erleben würden –, rief Finn den Wächtern die Frage zu, ob etwas geschehen sei.
»Der große Herrscher ist tot«, erwiderte ein Wächter mit ernster Stimme.
»Prinz Wladimir?«, fragte Kvasir.
Finn schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich habe Odin darum gebeten«, sagte er überwältigt. »Ich habe ihn aus der Dunkelheit angerufen, und er hat geantwortet.«
»Pah!«, stieß Martin verächtlich aus.
»Um was hast du ihn gebeten?«, fragte Kvasir aufgebracht. »Um Rache? Und was hast du ihm dafür versprochen?«
Finn antwortete nicht, aber sein Schweigen sagte genug.
Doch ich war mir sicher, es war etwas anderes. Es wären zu viele Glocken für Wladimir, und jetzt wusste ich, Odin hatte wirklich eingegriffen. Es war sein Vater, Fürst Swjatoslaw, der gestorben war. Später erfuhr ich, dass seine eigenen Petschnegen ihm aufgelauert hatten, bestochen von der Großen Stadt, die er immer wieder herausgefordert, aber nie bezwungen hatte. Der Herrscher aller Rus, getötet von einem lumpigen Steppenkrieger mit Pfeil und Bogen von der Art, wie man für eine Kupfermünze ein ganzes Dutzend kaufen kann. Sein Schädel würde schließlich in Silber gefasst werden und irgendeinem Anführer der Petschnegen als Trinkgefäß dienen.
Doch hier in der Grube wusste ich vorläufig nur, dass Wladimirs Vater tot war. Ich fühlte Odins Macht und beugte mich vor ihm.
Jetzt, wo Swjatoslaw tot war, war Wladimir in einer schwierigen Situation. Er war der jüngste von drei Brüdern und noch dazu der unwichtigste, denn seine Mutter galt allgemein als nicht viel mehr als eine Sklavin. Von den anderen beiden war Oleg zwar dumm, aber stark, während der Älteste, Jaropolk, gerissen, feige und bösartig war.
Sie würden sich um die Nachfolge streiten, diese drei Brüder, und zwar eher früher als später, und die Totenglocke für Swjatoslaw würde womöglich auch zur Totenglocke für seinen jüngsten Sohn werden – es sei denn, dieser verfügte über einen unschlagbaren Trumpf.
Wie zum Beispiel einen Silberschatz.
Jetzt hatte ich keinen
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