Drachenboot
oder sie würden sich selbst jemanden suchen. Also hatte er Prinz Wladimir geschickt, doch das Wetsche hatte beträchtlichen Einfluss, und es entschied, dass der Prinz nicht in Groß-Nowgorod selbst wohnen dürfe, sondern nur außerhalb, in der Festung auf dem Berg.
Wladimirs ständige Berater waren ebenfalls anwesend, zu seiner Rechten sein Onkel Dobrynja und links von ihm Sigurd, der Befehlshaber von Wladimirs Druschina.
Sigurd war von den beiden eindeutig der Eindrucksvollere. Sein Spitzname war »Axtbiss«, und das aus gutem Grund: Eine Axt hatte nämlich seine Nase abgebissen – eine Erinnerung an einen Zweikampf, in dem er seinen Kopf nicht rechtzeitig zurückgezogen hatte. Jetzt hatte er eine Nase aus Silber, die mit einem Seidenband befestigt war, das fast völlig von seinem grauen Bart und Kopfhaar verdeckt war.
Es war aber besser, man erwähnte diese Tatsache niemals, wenn einem die eigene Nase lieb war; denn bei den Nordmännern war das Abschneiden der Nase eigentlich die Strafe für Diebe. Somit war es für einen Mann wie Sigurd, der sehr auf seine Würde bedacht war, ein äußerst peinlicher Verlust.
Doch wichtig war jetzt der kleine Wladimir, obwohl er erst ein Dutzend Jahre alt war. Er trug eine blaue Hose und ein einfaches weißes Hemd mit Gürtel, jedoch keine Kopfbedeckung. Sein Kopf war kahl rasiert bis auf die zwei Schläfenzöpfe, die er, genau wie sein Vater Swjatoslaw, nach Art der Chasaren trug.
»Ich höre, wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte er mit seiner Knabenstimme und sah mich an.
Das stimmte. Damals war Einar der Jarl der Eingeschworenen gewesen, und wir waren als Teil von Swjatoslaws Truppe auf dem Weg nach Sarkel, der Chasarenstadt, um sie zu belagern. Der damals sechsjährige Wladimir war auf seinem Pony angeritten gekommen und hatte unserem Aufbruch zugesehen.
Das erzählte ich ihm, und er nickte. »Ich erinnere mich an Einar. Ich habe auch gehört, dass er meinen Bruder Jaropolk verraten hat und in die Steppe ritt, um irgendeinen Schatz zu suchen. Dort soll er gestorben sein.«
»Das ist richtig, großer Prinz«, sagte ich und merkte, wie mir der Schweiß über den Rücken lief. »Die Jahre sind seitdem dahingeflossen wie das Wasser des Dnjepr.«
»Es passiert selten, dass Gelächter aus meinen Gefängnissen dringt«, antwortete er nach kurzer Pause, wahrscheinlich wollte er den Eindruck erwecken, als erwäge er seine Worte sorgfältig. Für einen Zwölfjährigen spielte er den Prinzen sehr gut.
»Es passiert auch selten«, sagte ich schwitzend vor Verzweiflung, denn ich ahnte, dass es jetzt auf jedes unserer Worte ankam, »dass man eine Geschichte hört, die einen so zum Lachen bringt.«
»Die habe ich erzählt«, unterbrach Olaf, und im Stillen verfluchte ich die kleine Ratte. »Möchtest du sie hören?«
Entsetzt schloss ich die Augen, während Wladimir sich
völlig überrumpelt zu seinem Onkel Dobrynja umdrehen wollte, doch dann war er doch Prinz genug, um sich eines Besseren zu besinnen. Seine kindliche Neugier behielt die Oberhand, und er forderte Olaf auf, zu erzählen.
»Es war einmal ein guter Slawe aus Groß-Nowgorod«, fing Olaf an, während sich mir der Magen umdrehte und mein Mund vor Angst so trocken wurde, dass ich nicht mehr schlucken konnte.
»Nennen wir ihn Wladimir.«
Und er erzählte die ganze Geschichte, nur war es jetzt kein Priester, sondern ein Onkel namens Dobrynja, und bei jeder neuen Episode spürte ich den heißen Atem der Walküren näher kommen.
Als die Geschichte zu Ende war und Wladimir versuchte, sein Grinsen hinter der Hand zu verbergen, sah ich Dobrynja durch seinen schwarzen Bart lächeln und wurde etwas zuversichtlicher. Es sah aus, als hätten wir eine Chance. Dann sah ich Sigurd an, der die Stirn über seiner silbernen Nase gerunzelt hatte, und damit sank meine Hoffnung wieder bis auf den Grund der Gefängnisgrube.
»Wie heißt du, Junge?«, fragte Sigurd so barsch, dass sowohl Wladimir als auch Dobrynja ihn überrascht ansahen.
»Ich heiße Olaf, Herr.«
»Und wie ist der Name deines Vaters?«
Ich schloss die Augen, denn den würde Olaf niemals preisgeben. Es entstand eine lange Pause.
»Hieß er zufällig Tryggve?«, brummte Sigurd, und ich sah, wie Olaf zusammenzuckte.
»Und deine Mutter hieß Astrid«, sagte er jetzt leiser, und wieder zuckte Olaf zusammen wie ein harpunierter Wal. Die Wahrheit traf mich wie Thors Hammer. Sigurd – er war Olafs verlorener Onkel.
»Kennst du diesen Jungen, Sigurd
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