DRACHENERDE - Die Trilogie
niemandem mehr bekannt war, keinen Profit verhieß, hatte seit vielen Zeitaltern niemand mehr danach gesucht. Inzwischen hielt so mancher seine Existenz für eine der vielen Legenden, die man sich im Seereich erzählte. Selbst unter den Vogelmenschen zweifelten manche daran, dass sie als Volk wirklich durch ein kosmisches Tor gekommen waren; sie glaubten stattdessen an die Geschichte von Thuure Letztwortgeber, dem aufmüpfigen Herrn der Insel Tjar, den der Schicksalsgott Groenjyr im betrunkenen Zustand in eine Zweikopfkrähe hatte verwandeln wollen.
Thuure hatte sich allzu laut über sein Schicksal beschwert, denn die Insel Tjar war zu jener Zeit in drei aufeinander folgenden Jahren von schweren Fluten heimgesucht worden, die die Hälfte seines Gebietes dem Eiland entrissen hatten. Viele aus seiner Sippe waren gestorben, Häuser vom Meer verschlugen und wertvolle Äcker und Schiffe vernichtet worden, und Thuure Letztwortgeber war der Meinung gewesen, dass ihn der Schicksalsgott erhören müsste, was durch einen Zauber auch geschah. Doch Groenjyr – betrunken und übellaunig wie stets - konnte die Klage des Sterblichen nicht lange ertragen, zumal er ihr aufgrund des Zaubers nicht einmal auf seinem eigenen Mond zu entfliehen vermochte. So fuhr der Schicksalsgott zur Drachenerde hinab und sprach nun seinerseits einen Zauber, der Thuure Letztwortgeber in eine Zweikopfkrähe verwandeln sollte, da seine Klage dem Empfinden des Gottes nach an das Gekreische dieses Vogels erinnerte.
Die Verwandlung misslang jedoch, denn Groenjyr, betrunken wie immer, war nicht in der Lage, den Zauberspruch fehlerfrei über die Lippen zu bringen. Er lallte ihn vielmehr vor sich hin, und das Ergebnis war der erste Vogelmensch – ein Mann, dessen Körper einem Menschen glich, dem aber auf dem Rücken gefiederte Schwingen wuchsen.
Solche Geschöpfe aber waren im Muster des Schicksalsteppichs nicht vorgesehen, was bedeutete, dass Groenjyr dieses gestaltgewordene Missgeschick durch einen weiteren Zauber wieder ungeschehen machen musste. Doch auch dies ging dem Schicksalsgott gründlich daneben. In der Zauberformel, die er daherlallte, wiederholte er immer wieder aufs Neue denselben Fehler. Ihm war durchaus bewusst, dass etwas nicht stimmen konnte, doch der äonenlange Genuss rauschhaft wirkender Getränke machte es ihm unmöglich, seinen Fehler zu erkennen und die Formel richtig zu rezitieren.
Auf diese Weise verwandelte er nach und nach noch eine ganze Reihe weiterer völlig unbeteiligter Seemannen, die zu dieser Zeit die Insel Tjar bewohnten, in geflügelte Menschen. Die meisten von ihnen hatten zwar im Herzen der Kritik Thuure Letztwortgebers zugestimmt, hätten es aber nie gewagt, selbst die Stimme gegen Groenjyr zu erheben. Dennoch - die gefährliche Mischung aus Unvermögen und unbändigem, immer wilder werdendem Zorn, die viele für ein geradezu kennzeichnendes Merkmal Groenjyrs hielten, traf die Unglücklichen mit voller Härte.
So war einst das Volk der Vogelmenschen entstanden – zumindest wenn man der Legende von Thuure Letztwortgeber Glauben schenkte und nicht der, dass das gefiederte Volk durch ein kosmisches Tor auf die Drachenerde gelangt war.
Bronr Eishaarssohn gab durch Hornsignale den Befehl, dass die Flotte vor Vogelborg vor Anker gehen sollte.
Die Händler, die in der in die Steilhänge hineingebauten Stadt wohnten, freuten sich darauf, die vielen Schiffe mit frischem Proviant versorgen und auf diese Weise gute Geschäfte machen zu können. Und auch die zahlreichen Tavernenbesitzer glaubten schon, dies wäre ihr Glückstag, doch Bronr schränkte den Landgang der Seeleute stark ein, denn die Flotte sollte einsatzbereit bleiben.
So blieb auch Orik und Kallfaer nur der Blick aus der Ferne auf die Märkte und Plätze von Vogelborg. Der Großteil der Stadt war noch nicht einmal durch Schutzmauern befestigt. Sie war so unzugänglich gelegen, dass ihr von Land her kein Angriff drohte, und wenn sich von der See aus ein Feind näherte, brauchte man einfach nur die Leitern zu entfernen, die die niedriger gelegenen Plateaus mit den höheren verbanden. Einzig und allein ein Angriff aus der Luft konnte der Stadt gefährlich werden, wogegen man sich mit einer Vielzahl von Katapulten zu schützen suchte. Die meisten davon waren jedoch hoffnungslos veraltet. Aber es war auch bereits Jahrhunderte her, dass es zuletzt einen Luftangriff auf Vogelborg gegeben hatte.
Damals hatte der Priesterkönig die Insel besetzen wollen, um
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