Drachenglut
wieder.«
»Ja, lass das besser bleiben, Kumpel«, sagte St e phen.
»Bist du jetzt fertig? Ich bin müde, ich glaub, ich hab das schon mal angedeutet.«
»Nein.« Stephen zwang sich zum Nachdenken. Was hatte Michael da gesagt? »Wie kommt es, dass du auf einmal die Verbindung zwischen Seele und Charakter nicht mehr sehen willst? Gestern bei Cle e ver hat dich das noch sehr beschäftigt. Weißt du noch?«
Er sah Michael direkt in die Augen und erkannte sofort, dass er gepunktet hatte. Leises Unbehagen glitt über Michaels Gesicht, eine Erinnerung blitzte auf, die er stark verdrängt hatte.
Michael sprach leise, als käme seine Stimme aus einem tiefen Abgrund. »Die Form … « Er hielt inne.
»War ein Reptil«, erinnerte ihn Stephen.
»Mich hat die Form beschäftigt. Aber die Form ist egal.«
»Gestern warst du noch anderer Meinung. Du hast gesagt, sie war böse. Und ich fand das auch. Sie war sehr böse.«
»Der Traum hat alles verändert. Böse, gut … da r um geht es bei den Seelen nicht. Sie haben die Schö n heit, und wenn man wie ich die Macht hat und den Willen, dann kann man, wann immer man will, diese Schönheit sehen. Du müsstest doch verstehen, was ich meine, Stephen. Du hast doch auch die Gabe. Vielleicht hast du heute Abend denselben Traum.«
»Hoffentlich nicht.«
»Bestimmt, ich glaub schon. Du bist bloß noch nicht so weit wie ich. Das kommt aber noch.«
Michael drehte sich auf dem Bett um und drückte sein Gesicht ins Kissen. Er schloss die Augen, und Stephen registrierte mit plötzlichem Erschrecken die Veränderung in seinem Gesicht. Michaels Wangen waren blass und seine Augen verquollen, als hätte er geweint.
»Und warum hast am Fenster gestanden?«, fragte Stephen wieder.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich daran nicht mehr erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass ich heute Morgen in meinem Bett aufgewacht bin. Jetzt will ich schlafen. Bis bald.«
Stephen verließ das Zimmer. Sein Kopf schmerzte.
Länger als eine Stunde lag er auf seinem Bett, das Bedürfnis nachzudenken war größer als das nach Schlaf. Er konnte sich nicht länger etwas vormachen: Die Gabe des BLICKS fing an, Michaels Verstand zu beeinflussen, und zwar auf eine Art, die Stephen nicht gut fand und überhaupt nicht begriff. Irgendwie hing das mit Mr Cleever und der Frau am Fenster zusammen, und wenn Michael den Anblick der Re p tilienseelen vergessen hatte – Stephen hatte das nicht. Ihre hungrigen Augen … was wollten sie? Wonach gierten sie?
Mr Cleever … Miss Sawcroft …
Er stöhnte laut auf.
Möglicherweise steckte das ganze Dorf da mit drin!
Naja – nicht alle.
Sarah nicht. Und Tom auch nicht.
Tom. Er verbannte die halb formulierten Geda n ken wieder aus seinem Kopf. Der Mann war Pfarrer. Wenn er auch nur eine Silbe von all dem hörte, kam Tom bestimmt sofort mit Bibel, Glöckchen und Ke r zen und machte einen auf Exorzismus. Außerdem hatte er was gegen Michael, deshalb war es ausg e schlossen, ihm davon zu erzählen.
Also war Stephen auf sich gestellt. Angst durc h zuckte ihn und seine Augen taten wieder weh. Plöt z lich begriff er, dass das, was mit Michael geschah, auch Stück für Stück ihm selbst widerfuhr.
»Hilft alles nichts«, sagte er laut. »Wir brauchen Hilfe. Wir brauchen dringend Hilfe.«
Er ging runter in die Küche, durchforschte die Speisekammer und öffnete zwei Dosen Ravioli. Die würde er jetzt kalt mit der Gabel aus der Dose mampfen, und wenn sie leer waren, hatte er hoffen t lich einen Entschluss gefasst.
Bevor er ging, sah er nach seinem Bruder. Der schlief immer noch. Sein Atm ging sehr flach und die Luft im Raum war stickig und schwül. Stephen öf f nete das Fenster, aber dann schloss er es wieder. Ihm fielen Michaels letzte gemurmelten Worte ein: »Bis bald.«
»Erst wenn ich das will«, dachte Stephen. »Und keine Sekunde früher.«
Lautlos zog er den Schlüssel heraus, machte die Tür zu und schloss sie von außen ab. Dann steckte er den Schlüssel ein und verließ das Haus.
25
Als Stephen zum Anger kam und das helle, sor g lose, sommerliche Dorf vor sich sah, hätte er seinen En t schluss beinahe fallen gelassen.
Die älteren Leute standen vor den Läden und schwatzten, der Eismann saß in seinem Bus und reichte erhitzten Kindern Eistüten und die Sonne schien freundlich auf all diese alltäglichen Dinge. Es schien völlig absurd, eine derart geordnete Welt mit so verwirrenden und seltsamen Erfahrungen zu ko n frontieren. Und noch
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