DrachenHatz
meinten«, fuhr ich unbeirrt fort. »Greta hat das Kind mit dem Lenkdrachen nämlich lediglich verletzen wollen, damit sie sich hinterher wieder voller Hingabe um ihn kümmern konnte. Haukes Tod war nicht geplant. Für ihre Zwecke wäre das ja auch höchst kontraproduktiv gewesen.«
»Weil sie so ohne Opfer dastand?«, mutmaßte Harry zutreffend.
»Du hast es erfasst«, lobte ich ihn nun schon zum zweiten Mal an diesem Abend. »So gab es zwar eine Riesenmitleidswelle, die lange anhielt. Aber irgendwann flaute natürlich auch die wieder ab. Das ist der Lauf der Dinge.«
»Und dann?«, fragte Harry gespannt.
»Tja, die Mutter befand sich in Sicherheit, ein weiteres Opfer war nicht in Sicht. Also erfand Greta die Anrufe, legte sich die tote Ratte vor die Tür und verwüstete ihre Wohnung, um sich wenigstens weiter Aufmerksamkeit zu sichern. Aber davon habe ich dir noch gar nicht erzählt, glaube ich.«
»Nein.«
Rasch holte ich dies nach, und als ich geendet hatte, meinte Harry mit ehrlicher Bewunderung in der Stimme: »Donnerwetter, das ist wirklich stimmig bis zum bitteren Ende gedacht. Chapeau, Hemlokk!«
Das Lob ging mir runter wie Öl, aber ich nickte lediglich verhalten. Denn irgendetwas stimmte an der ganzen Sache noch nicht. Irgendetwas hatte ich in meiner Begeisterung übersehen. Und plötzlich klingelte es im wahrsten Sinne des Wortes in meinem Kopf: der Anruf! Ich hatte ihn selbst entgegengenommen, während Greta neben mir stand. »Harry«, sagte ich zögernd, »so kann es nicht –«
»Moment noch«, unterbrach er mich. »Und als du es als Einzige gewagt hast, dich nicht um Greta zu kümmern, sondern mit Thomas in den Urlaub zu fahren –«
»– zu dem sie mich gedrängt hat!«, erwiderte ich fast beleidigt und damit automatisch wieder in das alte Muster fallend.
»Natürlich. Weil sie auch noch großmütig wirken wollte. Aber die Quittung hast du prompt bekommen. Sie oder jemand anders hat dich in ihrem Auftrag angegriffen und dir so gezeigt, was sie von dieser Entscheidung hielt.«
»Ja, das könnte durchaus sein«, stimmte ich nachdenklich zu, »obwohl er mich eigentlich eher gewarnt hat, mich rauszuhalten. Dabei kann ich nicht einmal sagen, ob es sich bei meinem Angreifer um einen Mann oder eine Frau handelte. Der Täter war vermummt, weißt du. Das ist das gleiche Problem wie bei dem –«
»Ich habe einen Riesenappetit«, unterbrach mich Harry plötzlich laut und stand hastig auf. »Lass uns den Kühlschrank plündern, ja?«
Und das taten wir. Gut, dann würde ich ihm von dem Anruf eben nachher erzählen. Jetzt gab es erst mal Brot, Butter, Reste vom Räucherlachs mit Rührei, Leberpastete, Himbeermarmelade und zum Abschluss Obst, dazu eine riesige Kanne Kaffee. Zunächst merkte ich gar nichts, weil ich intensiv damit beschäftigt war, meinen Magen zu füllen. Erst nach und nach fiel mir auf, dass Harry die ganze Zeit über schwieg.
»Was ist?«, mümmelte ich schließlich, als er auch noch anfing, meinem Blick auszuweichen.
»Was soll sein?«
Du große Grundgütige, mit wem, glaubte er denn, saß er hier? Einer kompletten Nichtmerkerin? »Irgendetwas beschäftigt dich doch«, erklärte ich ihm geduldig. »Aber du willst es mir offenbar nicht erzählen. Komm schon, so lädiert ist meine Birne nicht.«
»Ist nicht so wichtig«, wiegelte er ab und blickte dabei intensiv in die dänische Dünenlandschaft hinaus.
Was zum Teufel war denn plötzlich in diesen Mann gefahren? Sah er vielleicht Gespenster, oder was trieb ihn sonst um? Klar erinnerte ihn mein Anblick immer wieder an den Angreifer … dessen Identität wir nicht kannten … der jedoch akzentfrei auf Deutsch gedroht hatte … und der logischerweise irgendwo hier in Dänemark sein musste … Du großer Gott, meinte er etwa … Thomas? Ich schluckte und sah Harry, der mich jetzt ungeniert beobachtete, an, dass er wusste, dass es mir nun ebenfalls dämmerte.
»Er war hier, das ist nicht zu leugnen«, meinte er sehr sanft, als ich kläglich schwieg. »Und Verprügeln ist eine eher männliche Form der Aggression. Frauen rächen sich anders.«
Ich behielt nur mit allergrößter Mühe mein Frühstück im Magen. »Nein«, wehrte ich automatisch ab, »das glaube ich nicht.« Um dann völlig unlogisch fortzufahren: »Aber warum? Weshalb sollte ausgerechnet Thomas so etwas tun?«
»Hat er den Streit vom Zaun gebrochen?«, fragte Harry betont ruhig.
»Nein«, erwiderte ich spontan. Doch, korrigierte eine innere Stimme leise. Er
Weitere Kostenlose Bücher