Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
Die Gefäße platzen unter dem mit herkömmlichen Geräten nicht meßbaren Blutdruck, und das Blut gerinnt kaum noch. Die nun einsetzende Agonie ist so grauenvoll und vielfältig – die einen ersticken unendlich langsam an dem Blut, das in die Lunge läuft, die anderen sterben, weil das Blut die Leber förmlich zerreißt, die Glücklichsten unter den Bedauernswerten erleiden einen Hirnschlag –, daß ein Außenstehender die unmenschlichen Leiden der Sterbenden nur noch anhand der aufgezeichneten Engramme ermessen kann.
Kaum einer weiß es besser als Goff, daß der Mungo eine kurze Spanne täuschenden Hochgefühls mit einem Sterben bezahlen muß, das für ihn so lange andauert wie sein ganzes Leben…
Damals hat Goff kühn behauptet, er würde sich das Leben nehmen, wenn er in solch eine Situation geriete. Er hat auch gefordert – mehrmals und eindringlich –, den Sterbenden ihr Leid zu verkürzen, wenigstens denen, die darum bitten. Er konnte einfach nicht begreifen, weshalb seine Anträge schroff abgelehnt wurden.
Jetzt auf einmal wird ihm die Einmaligkeit seines Lebens schmerzhaft bewußt, und der Gedanke an den Freitod ist in so unendliche Ferne gerückt, daß nicht einmal die Vision von den bevorstehenden Qualen in seine Richtung weist.
Goff erinnert sich an ein geheimes Treffen mit Rikkitikkitavi, dem Führer der Mungoliga.
“Warum stellt ihr euch gegen die Gemeinschaft?” hatte Goff – wie ihm jetzt scheinen will, recht einfältig – gefragt.
Der vom nahen Ende gezeichnete Sozialpsychologe Golonna, ein Studienfreund Hermel Goffs, schüttelte daraufhin traurig den Kopf. “Wir stellen uns nicht gegen die Gemeinschaft. Wir wissen nur, daß die Gemeinschaft uns nichts mehr weiter geben kann als unsere Freiheit. Eine Integration ist unmöglich, ebenso eine territoriale Isolation. Es gibt nur einen Weg: zwei Kulturen in einer Gesellschaft. Das würde bedeuten, Gesunde und Mungos würden so nebeneinander leben wie Wanzen und Flöhe…” Goff wußte mit diesem Vergleich nichts anzufangen, obwohl er Golonnas Neigung zu einer recht blumigen Redeweise kannte. “Wieso können wir euch nur Freiheit geben? So ein Unsinn, was für eine Freiheit meinst du überhaupt?”
Golonna – von den Mungos Rikkitikkitavi genannt – lächelte. “Ich meine unsere Freiheit, unseren veränderten Bedürfnissen gemäß leben zu dürfen. Nichts weiter.”
Damals war Goff noch recht unerfahren, und erst dieser Satz offenbarte ihm das eigentliche Problem der Mungos. Allerdings viel später, nachdem er Zeit zum Nachdenken hatte.
“Wir können euch bedeutend mehr geben”, antwortete er überzeugt, “wir können zum Beispiel nach einem Mittel gegen Mungoismus forschen und euch Gesundheit bringen…”
Hier wurde er von Golonna unterbrochen: “Was nennst du Gesundheit? Woher willst du wissen, daß wir uns das wünschen, was du Gesundheit nennst?”
Es waren damals erst wenige Mungos gestorben, und der progressive Verlauf der Krankheit war noch nicht erwiesen. Goff hatte also kein Argument gegen diese Frage und mußte sich von Golonna erklären lassen, daß es durchaus Vorzüge habe, ein Mungo zu sein. Halbwegs überzeugt war er erst, als Golonna ihm erzählte, wie er mit Delphinen um die Wette geschwommen und einem Amigo hinterhergelaufen sei, in dem er sein Univox liegengelassen hatte.
“Na gut”, sagte er, “dann können wir euch Aufgaben bieten, für die sich Mungos besonders eignen, davon profitieren schließlich beide Seiten.”
“Du hast zu viele Vorlesungen geschwänzt, lieber Hermel”, antwortete Golonna, “wir wollen Freiheit, nicht zusätzliche Beschränkung. Warum sollen für uns andere Ideale gelten als für euch?”
“Ja…, aber soweit sind wir doch noch lange nicht…”, stotterte Goff hilflos.
“Eben. Soweit sind wir noch nicht.”
In den darauffolgenden Tagen nahm Goff Arbeitsurlaub und vergrub sich in Büchern, Kassetten und Speicherkristallen. Er war endlich der Frage auf die Spur gekommen, die so alt wie die Menschheit war: Wofür leben wir?
Goff studierte die klassischen und modernen Philosophen, er befaßte sich noch einmal mit Soziologie, Psychologie und Geschichte.
Es war ein langer und schwerer Weg für Hermel Goff, und am Ende stand die Idee von der Moralischen Revolution.
Die Genetikspezialisten des MOBS rissen ihm diesen Gedanken förmlich aus den Händen. Der Plan faszinierte Goff derart, daß er sich ihmbedingungslos verschrieb: die Menschheit von den Überbleibseln ihrer
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