Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
beeindrucken. Er kennt inzwischen die Strukturen einigermaßen, die das Denken Brunos von der Hohen Aue prägen. Sie sind sehr einfach zu entschlüsseln, aber für Styx, der so etwas das erstemal sieht, wird es wie ein Alptraum sein, und er wird sich hüten, dem Superproximer erklärende Kommentare zu geben. Der Mann soll nicht begreifen, sondern sich beeindrucken lassen.
Zuerst wieseln undefinierbare Knäuel über den Bildschirm, und eine Stimme keucht ängstlich: “Die Uhr! Du mußt die Uhr aufziehen, Bruno, zieh die Uhr auf…” Die Worte klingen so, als würden sie in einer riesigen und menschenleeren Kirche gesprochen.
Die umherwieselnden Knäuel gewinnen allmählich an Kontur, sie ähneln in gewisser Weise diesem Kosmosvieh, das Skagit heimlich an Bord geschafft hat, denkt Vegard, aber was soll dieses feuerrote Federbüschel am Hinterteil?
Als er Styx verhalten kichern hört, begreift er plötzlich und muß gegen seinen Willen schmunzeln: Arthurs Hintern gleicht verblüffend Styx' entblößtem Schädel, nur daß dem keine Federn, sondern sich kringelnde brandrote Haare aus der Kopfhaut sprießen. Quadrangel notiert sich diese Traumsymbolik und setzt ein Ausrufezeichen dahinter, denn dem Anschein nach nehmen die unzähligen skurril verzerrten Zwergburrbos dem träumenden Subjekt gegenüber eine drohende Haltung ein. Sie springen immer wieder mit angriffslustig vorgestrecktem Rüssel auf den Bildschirm zu, und ihre Knopfaugen schillern dabei ganz merkwürdig. Und immer noch mahnt die hallende Stimme Bruno, die Uhr aufzuziehen…
“Das hat ganz klar mit Skagit zu tun”, sagt Styx leise, “irgendwie überträgt Bruno Skagits ewige Stänkerei unbewußt auf Arthur.”
“Vielen Dank für Ihren Hinweis, Superproximer, darauf wäre ich nie gekommen”, entgegnet Vegard Quadrangel frostig. Aber ganz im Innern gesteht er sich ein, daß Styx eine Sekunde schneller geschaltet hat. Sicher, ihm als Bordarzt sind die jüngsten Querelen nicht verborgen geblieben – es knistert mächtig im Gebälk, die Mannschaft fällt auseinander.
“Entschuldigen Sie, Doktor”, murmelt Styx betroffen, und Vegard ahnt es mehr, als er es in der Dunkelheit sieht, daß der andere ihn ehrfürchtig und unsicher anstarrt. Er fühlt sich ein wenig geschmeichelt. Einerseits findet er diesen Styx ungemein lästig, andererseits genießt er die grenzenlose Achtung des Mannes vor seiner ärztlichen Kunst. Und die blauen Flecke am Oberarm – dort, wo sich Styx festgekrallt hat, als Bruno anfing wieder zu atmen –, die nimmt er dem Superproximer nicht mehr übel, obwohl er sich von Styx in jenem Augenblick nur mit Gewalt befreien konnte. Er hat über sechs Stunden operiert, mit Sonden und Leukozinlösung das geronnene Blut aus dem Kreislauf entfernt, Eiweißregenerat in das Gehirn gepumpt – er ist förmlich hineingekrochen in den Körper seines Patienten. Es war zwar nicht die komplizierteste, aber auf jeden Fall die wichtigste Operation seines Lebens, und eigentlich war es mehr Arbeit als Kunst, vergleichbar vielleicht mit der Fähigkeit eines Feuerwerkers, der einen Blindgänger entschärft…
Das Gewimmel auf dem Bildschirm wird hektischer, die Konturen der bizarren Tiere lösen sich wieder auf, zerfließen zu goldleuchtenden Schleiern, und aus diesem Flimmern scheint ein Ton zu steigen, wie ihn Vegard noch nie vernommen hat. Obwohl er ganz leise über dem sich zu einem Strudel ordnenden Getümmel schwingt, wie feines Sirren und Zirpen, hat er doch etwas Beklemmendes, Angsteinflößendes. Vegard wird unruhig, er erinnert sich eines Alpdrucks, den er als Kind fürchtete wie nichts anderes: Eine schwingende, schillernde Saite wächst aus dem Nichts heraus und verschwindet wieder im Nichts. Sie zittert und zittert, lautlos, gespenstisch, und Vegard befiel jedesmal eine solch gräßliche Furcht, daß er schweißgebadet und schreiend aus dem Schlaf fuhr. Dieser Ton, der jetzt durch Brunos Traum schwebt, paßt haargenau zu dieser Fieberphantasie. Und dieser kreisende, golden gleißende Strudel, er saugt und saugt…
Das Geräusch schwillt zu einem schrillen Kreischen, aber es ist schon längst nicht mehr nur ein Geräusch, Vegard fühlt sich emporgerissen, es stößt und zieht ihn, dringt durch seine Poren. Nein, das ist viel mehr als ein Geräusch, es ist das greifbar gewordene Grauen, das sich eisig in ihn ergießt, und je mächtiger es in ihn dringt, desto stärker füllt es ihn mit einer entsetzlichen Leere, mit Dunkelheit, Stille,
Weitere Kostenlose Bücher