Drachenland: Roman (German Edition)
war nicht mehr König!
Die Morgendämmerung war gekommen und vorübergegangen. Die steigende Sonne verwandelte den Tau zu Nebelstreifen, die zart über der Ebene hingen. Ceria saß neben der erkalteten Asche des Feuers und starrte angespannt in die schimmernde Kugel vor ihr. So saß sie schon seit Stunden, ihre Gedanken auf die Drachenperle konzentriert, aber was sie erfahren hatte, hatten die Rayaner selbst schon vor langer Zeit herausgefunden. Die Leute aus den Wagen, die sich zuerst voller Interesse um sie versammelt hatten, waren jetzt an ihre morgendlichen Aufgaben gegangen. Nur Zurka und Balia warteten noch; Zurka schien ihre Pflegetochter angespannt zu beobachten. Sogar Balia war neugierig, ob etwas Neues aus der Drachenperle zu erfahren war, obwohl Cerias offensichtliches Versagen sie freute.
Ceria war jenseits aller Müdigkeit. Ihr Körper schien sich von ihr gelöst zu haben, und sie spürte kaum noch die Schmerzen von dem langen Ritt und dem Stillsitzen seither.
Sie hatte dem Stein mühelos all das entlocken können, was den anderen Rayanern schon bekannt war – die sanft wogenden Wolken schienen sich fast eifrig für ihren Blick zu teilen: Ein grünes liebliches Land erschien Ceria und den anderen um sie herum; langsam, als trügen Riesenflügel sie, reisten sie durch einen wolkenlos blauen Himmel, über Flüsse und zerklüftete Berge, deren Spitzen schneebedeckt und deren Flanken mit dichten Wäldern bewachsen waren. Das Bild war undeutlich, aber es musste ein Land voller Leben sein, denn im Dunst erschienen riesige Gestalten, mal mit vier, mal mit zwei Beinen und unterschiedlich groß, aber alle hatten Flügel. Ein tiefer Frieden ging von der ganzen Szene aus. Die Wesen sonnten sich, badeten in heißen Quellen und fanden Nahrung zwischen den Bäumen. Es war ein Paradies aus uralter Zeit; der Eindruck kommender und gehender Jahrhunderte war sehr ausgeprägt, als Bild für Bild langsam in das nächste Bild überging. Die Drachen schienen zu gedeihen; die zweibeinigen nahmen an Zahl zu, aber die größeren Wesen beherrschten weiter das Land. Nach einiger Zeit jedoch ergriff Ceria ein Gefühl der Furcht. Wolken zogen über dem Drachenland auf, und sie bemühte sich, sie mit ihren Gedanken zu durchdringen. Dann überzog der regenbogenfarbene Dunst das ganze Bild, und die Drachenperle hüllte sich wieder in perlmutterne Stille. Ceria konnte nicht tiefer eindringen.
Jetzt spürte sie ihre Erschöpfung. Die Schmerzen in ihren Gliedern kamen ihr zum Bewusstsein und das Bedürfnis, zu essen und zu schlafen. Sie versuchte, sich trotzdem noch zu konzentrieren, denn wenn sie jetzt aufgab, musste sie ohne die Drachenperle nach Oberwald zurückkehren. Sie musste einfach wach bleiben. Doch noch während sie darum kämpfte, zerfielen ihre Gedanken zu unzusammenhängenden Bruchstücken und tauchten unter in der vertrauten Dunkelheit des Schlafs.
Zurka hielt Ceria fest, als sie langsam auf die Seite rutschte. Balia starrte weiter in den Stein. Der Nebel war verblasst, aber die Perle hatte jetzt eine ungewohnte Farbe – obwohl Ceria schlief, schien die Perle noch zu arbeiten.
Zurka lauschte Cerias regelmäßigen Atemzügen. Langsam kehrte Farbe in ihre Wangen zurück. »Sie ruht sich aus«, sagte Zurka. »Im Augenblick kann sie nichts mehr von der Perle erfahren.«
»Warte!«, rief Balia aufgeregt. »Sieh den Stein an!« Als ihre Stiefschwester sprach, veränderte Cerias gelöster Ausdruck sich, als habe sie einen Albtraum. Ihre Hand in der ihrer Mutter fühlte sich plötzlich kalt an, und auf ihren Armen erschien eine Gänsehaut.
»Der Stein, Mutter! Sieh nur den Stein!«
Zurka blickte hin.
Zuerst sah sie nur sich verschiebendes Weiß, als verlören die Wolken in dem Stein ihre Farbe. Dann merkte Zurka, dass sie in der Kugel einen Schneesturm sah. Sie behielt die Kugel im Auge, während verschiedene Leute zurückkehrten, um zu sehen, was geschehen war, und jetzt schien die Drachenperle sich auszudehnen, ihrer aller Blickfeld und ihre Gedanken zu füllen.
Wieder erschienen die Täler und Berge im Drachenland, jetzt aber mit Schnee bedeckt. Schneewehen trieben dahin, und Lawinen stürzten herunter und begruben die Drachen unter sich. Die friedlichen Flüsse froren zu, schneidender Wind fegte durch Bergpässe, und Gletscher bewegten sich langsam, aber unerbittlich durch Täler; ihr blaues Eis scherte Bäume ab und scheuerte die Berge kahl.
Die Drachen tauchten wieder auf, und jetzt ging von den Bildern der
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