Drachenland: Roman (German Edition)
Am nächsten Morgen sammelten sie wieder Samenschoten, bis ihre Taschen und Satteltaschen zu platzen drohten.
Auf dem Rückritt nach Tamberly fiel Tenniel Jondalruns Schweigsamkeit auf. Er war auch auf dem Ritt zum Fenn meistens schweigsam gewesen, aber dies war eine andere Art von Schweigsamkeit, beinahe so, dachte Tenniel, als ob er sich schämte.
10
In der Nähe von Oberwald stand ein Mann an einen Baum gefesselt, mitten in einer abgelegenen Lichtung. Es war Willen, der Nordweldener. Die Lichtung war von gepflegten Sträuchern umgeben, ein Ort, der eigentlich zur inneren Einkehr bestimmt war. Willen jedoch war gar nicht danach zumute. Als er das Podium verlassen hatte, war er noch stolz auf sich gewesen. Er hatte sein Ultimatum gestellt und Eindruck gemacht. Er war, um die Wahrheit zu sagen, so in selbstgefälligen Betrachtungen versunken, dass er seine übliche Vorsicht vergessen hatte. Da fiel plötzlich von einem Baum herunter ein Netz über ihn, man brachte ihn an diesen Ort, und da stand er nun schon seit Stunden. Es war jetzt später Nachmittag.
»Ich sage es dir noch einmal«, sagte er mit gepresster Stimme zu seinem Bewacher, »ich bin hier als Abgesandter von Nordwelden! Dies wird zu ernsthaften Unannehmlichkeiten führen! Wenn ich nicht bald zurückkehre, wird mein Begleiter in Nordwelden Bescheid geben!«
Der Bewacher zuckte nur die Achseln. Er gehörte zu Prinzessin Eviraes persönlichem Gefolge, ausgewählt, weil er die bewundernswerte Fähigkeit besaß, Befehlen zu folgen, ohne viel darüber nachzudenken. Mesor hatte ihm den Auftrag gegeben, und er hatte ihn ausgeführt; die Beschimpfungen seines Gefangenen störten ihn überhaupt nicht.
Seine Gelassenheit sollte jedoch bald gestört werden. Willen hatte von dem Moment an, als er an den Baum gefesselt worden war, die Stricke an seinen Gelenken an der Baumrinde hin und her gescheuert. Jetzt, nach mehrstündiger Arbeit, standen sie kurz vor dem Zerreißen. Der Bewacher bemerkte es erst, als Willen seine Fesseln zerriss und über die Grasnarbe auf die Sträucher zulief. Es mangelte dem Bewacher zwar an Intelligenz, nicht aber an Schnelligkeit. Er holte Willen ein und packte den Nordweldener in dem Moment, als sie den Rand der Lichtung erreichten.
Sie rollten auf dem Rasen hin und her, um sich tretend und schlagend. Der größere Körperumfang des Bewachers begann sich schließlich durchzusetzen; Willen lag auf dem Rücken, vom Bewacher zu Boden gepresst. Plötzlich ertönte ein Knacken in den Sträuchern. Beide blickten erstaunt auf – in lächerlicher Stellung.
»Lass den Mann frei!«, sagte Prinzessin Evirae. Sie war auf einem schönen Schecken aus den Sträuchern aufgetaucht. Aus Willens Sicht schien ihr hochgestecktes Haar über die Baumwipfel hinauszureichen: Edelsteine glitzerten darin, und kleine Glocken umgaben sie mit Musik. Ihr Reitkleid war von einem strahlenden Gelb, und ihre langen Ärmel wurden von silbernen Schleifen zusammengehalten.
Hinter ihr folgte ein Mann, ebenfalls zu Pferd. Willen hatte ihn neben ihr bei der Zeremonie gesehen. Es war Mesor, Eviraes wichtigster Ratgeber. Die beiden Reiter zügelten ihre Pferde knapp vor den beiden Männern auf dem Boden. Evirae zeigte mit einem ihrer langen Fingernägel theatralisch auf den Bewacher. »Wie kannst du es wagen, einen Abgesandten aus Nordwelden so zu behandeln!«
Der Bewacher stolperte verwirrt auf die Füße. »Ich bitte um Verzeihung, Hoheit, ich habe doch nur getan, was Ihr …«
»Schweig still!«, rief Evirae. Das Pferd bäumte sich ein wenig auf und schnaubte, als sie an den Zügeln riss, was ihren Befehl noch unterstrich. »Kehre nach Oberwald zurück und warte auf meine Anordnungen!«
Der Bewacher schluckte, nickte und verließ sie. Evirae lächelte jetzt auf Willen hinunter, der noch immer auf dem Boden lag. »Mesor«, sagte sie, »kümmere dich um unseren Gast.« Mesor schwang sich von seinem Pferd hinunter, half Willen hoch und bürstete Schmutz und Zweige von seiner Tunika. Er erkundigte sich nach dem Namen des Nordweldeners und teilte ihn der Prinzessin mit. Evirae saß ab und streckte ihm die Hand entgegen. Willen ergriff sie, sorgsam die Nägel vermeidend; er hatte gehört, dass sie sie mit Gift färbte, obwohl es ihm angesichts ihrer Schönheit schwerfiel, das zu glauben. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagte sie zu ihm, und ihre Stimme war süßer als das erste Vogellied nach einem Regen. »Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Dummkopf
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