Drachenland: Roman (German Edition)
hoch; die größere Last hält uns näher am Boden.«
»Es tut uns leid, wenn wir Euch Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte Willen steif.
Thalen hob eine Augenbraue. »Das habe ich nicht gemeint«, sagte er, immer noch bereit zu einem Gespräch. »Ich wollte Euch nur noch einmal versichern, dass in dieser Höhe wenig Gefahr plötzlicher Windströmungen besteht. Ihr braucht die Reling nicht so krampfhaft zu umklammern.«
Zornig bellte Willen ihn an: »Ich weiß, dass wir Bodenmenschen den Brüdern des Windes feige erscheinen. Aber manche Gefahren, denen wir dort unten gegenüberstehen, sind viel bedrohlicher als irgendetwas in der Luft, besonders in Kriegszeiten. Kommt doch runter aus Eurer sicheren Höhe und kämpft Seite an Seite mit uns, dann werden wir sehen, wer mutiger ist!«
Nach dieser Abfuhr zog Thalen sich zurück. Er hatte schon genug Sorgen wegen Kiortes Verschwinden. Er ging rasch zum Heck, um einen Flaschenzug zu überprüfen. Willen spürte, wie sein Gesicht im kalten Wind brannte. Seine lauten Worte hatten die wenigen Gespräche um ihn herum zum Erliegen gebracht, doch er war zu stolz, irgendetwas zurückzunehmen.
Amsel stürzte in Finsternis und Kälte. Er schien immer tiefer zu fallen, bis er plötzlich von einem eisigen Wirbelwind gepackt wurde. Sein Körper fühlte sich taub an, seine Brust verkrampft wie eine Faust. Er war in einem unterirdischen Fluss gelandet! Er zwang sich dazu, mit den Beinen zu treten, und kam unerträglich langsam nach oben.
Und dann erreichte er die Oberfläche. In seinen Ohren dröhnte es, während er keuchte und hustete, bis seine Lunge wieder mit wunderbar frischer Luft gefüllt war. Die Strömung war recht stark. Amsel stieß auf einen Felsen und umklammerte ihn mit beiden Armen. Seine Finger waren völlig gefühllos, der Fluss zerrte und riss an ihm, aber er klammerte sich eigensinnig fest.
Er zwang sich, langsam zu atmen, um sein klopfendes Herz zu beruhigen. Er wusste nicht, wie tief er gefallen war, er sah überhaupt nichts, und obwohl er mit den Beinen in alle Richtungen trat, fand er keinen Hinweis auf irgendein Ufer rechts oder links oder auf eine seichte Stelle.
Einen Augenblick lang dachte Amsel an die Wärme und Abgeschiedenheit seines Baumhauses in Fandora. Dann traf ihn ein Schwall kalten Wassers, und er wurde wieder in die Strömung geworfen. Er bemühte sich, den Kopf über Wasser zu halten, tretend und um sich schlagend, bis er an einer ruhigen Stelle mit den Füßen voran auf dem Rücken dahintrieb. Während er unablässig Arme und Beine bewegte, um sie warm zu halten, wurde ihm auf einmal klar, dass er die Decke der Höhle sehen konnte. Ein trübes Licht drang zu dem unterirdischen Fluss durch. Er hatte das Gefühl, er müsse Hurra rufen – der Fluss trug ihn an die Oberfläche!
Einen Augenblick später trieb er hinaus ans Tageslicht, das, grau wie es war, doch seinen Augen wehtat. Er sah Bäume, die sich wie ein Baldachin über ihm wölbten, darüber Wolkenfetzen. Er trieb unter einer Baumwurzel hindurch, die auch als Brücke diente. Nachdem der Fluss sein unterirdisches Bett verlassen hatte, verbreiterte er sich und floss friedlich dahin. Amsel zwang seine müden Arme, auf das Ufer zuzupaddeln, und zog sich, vor Kälte zitternd, die grasbewachsene Böschung hinauf. »Na ja«, sagte er zähneklappernd, »jedes Ding hat wohl auch eine gute Seite – wenigstens den Schlamm habe ich abgespült. Jetzt muss ich mir etwas zu essen suchen.«
Er hob den Kopf und entdeckte einen prächtigen Baum auf der anderen Seite des Flusses, aber im gleichen Augenblick wurde ihm ein scharfer Speer entgegengehalten.
»Keine Bewegung!«
Einen Augenblick lang war Amsel überzeugt, dass man ihn gefangen genommen hatte. Dann sah er sich den Speer näher an und erkannte, dass seine Spitze nicht aus Metall bestand. Er berührte sie neugierig, und sie bog sich unter seinem prüfenden Finger. Amsel drehte sich um und sah einen großen Jungen vor sich, etwa acht oder neun Jahre alt.
»Du bist mein Gefangener!«, rief der Junge. Hinter ihm stand ein etwas jüngeres Mädchen.
Amsel lächelte. »Es sieht so aus.«
Das Mädchen trug einen hübschen roten Mantel. »Ist dir kalt?«, fragte es Amsel.
»Ja, sehr kalt.«
»Hier.« Sie zog ihren Mantel aus. »Du kannst dich damit abtrocknen, aber gib ihn mir bitte wieder. Meine Mutter hat ihn gemacht. Er sieht genauso aus wie der von Lady Ceria.«
Amsel nahm den Mantel dankbar an. »Lady Ceria, sagtest du? Trägt sie
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