Drachenlord-Saga 01 - Der letzte Drachenlord
fand keinen Winkel, aus dem sich die blasse Mondsichel im Wasser unter ihr spiegelte.
Was soll’s – ist wahrscheinlich besser so. Bei meinem Glück funktioniert es sowieso nur bei Yerrins – schließlich handelt es sich um eine Yerriri-Legende –, und ich hätte eine wertvolle Münze weggeworfen. Trotzdem …
Sie hielt die Münze in den Brunnenschacht. Bevor sie ihren Entschluß wieder ändern konnte, ließ sie sie in die Tiefe fallen. Einige Momente später vernahm sie ein leises, musikalisches »Plink«, als die Münze ins Wasser fiel.
»Das war dumm«, sprach sie in den Brunnen hinein.
Hinter ihr fragte eine tiefe Stimme: »Was war dumm?«
Ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie erkannte die Stimme. Bevor sie sich umdrehen konnte, legten sich kräftige Arme um sie. Sie ließ sich von ihm halten, schmiegte sich an ihren Dockarbeiter, während er an ihrem Ohr knabberte. Ihre Hände kamen hoch und legten sich auf seine.
Ihre Finger berührten das Ende der Ärmel an seinen Handgelenken. Zu ihrer Überraschung waren die Ärmel zackenförmig. Sie fand das eigenartig, denn dieser Stil war lange aus der Mode. Neugierig geworden, tastete sie weiter und hätte beinahe überrascht aufgeseufzt, als ihre Finger den dicken, geriffelten Stoff fühlten.
Es war neiranalische Bergseide. Onkel Kesselandt hatte ihr einmal einen Ballen davon gezeigt, den einzigen Ballen, den er sich je hatte leisten können.
Dann mußte ihr Dockarbeiter wohlhabend sein, obwohl er ein Ausgestoßener war. Oder stand er sich nach wie vor gut mit seinem Clan und hatte sich nur zum Spaß in niedere Gesellschaftsschichten hinabbegeben? Sie hoffte nicht; sonst war sie für ihn vermutlich nichts weiter als eine kleine, billige Ablenkung.
Er lachte leise, sein Mund an ihrem Ohr. »Wenn du nur wüßtest, wo ich dich heute überall gesucht habe.« Seine Wange lag an ihrer.
Seine Worte erfüllten sie mit einem wohligen Glühen. »Ich habe dich auch gesucht. Aber was tust du hier? Wenn meine Tante wüßte, daß ich mit einem Dockarbeiter …«
»Was sollte sie gegen einen deiner Kollegen haben?« Er klang verwundert. »Du …«
Dann war er also tatsächlich ein Dockarbeiter. Dies zu wissen war eine Erleichterung. Sie verdrängte die Frage, wie er sich neiranalische Bergseide leisten konnte.
Sie sagte: »Ich arbeite nicht an den Docks. Ich – ich wollte nichts sagen, als mir klar wurde, daß du mich für eine Dockarbeiterin hieltest. Ich fürchtete, daß …« Es war ihr zu peinlich, den Satz zu Ende zu sprechen.
»Daß ich mich zurückgezogen hätte?« Seine Stimme klang verständnisvoll. »Hätte ich nicht. Aber wenn du keine Dockarbeiterin bist, was bist du dann? Und wie ist dein Name?« Er strich ihr zärtlich über die Wange.
»Maurynna Erdon. Ich bin Kapitän der …«
Er schüttelte den Kopf, dann lachte er. »O Götter! Und ich wollte dich durch Otter fragen lassen, ob du dich selbst suchen könntest!« Noch immer leise lachend, knabberte er wieder an ihrem Ohr.
Otter? Woher kannte er Otter?
Verwirrt versuchte sie, sich umzudrehen, doch seine Arme schlossen sich fester um sie. Sie wandte den Kopf zu ihm herum.
Er küßte sie – zumindest den Teil ihres Mundes, den er erreichen konnte. »Du hast mich gesucht? Obwohl du Kapitän eines Schiffes bist?« fragte er.
»Ja«, gab sie zu. »Das habe ich.«
Einen Moment schwieg er. Nach einem weiteren Kuß sagte er: »Ich muß dir ebenfalls etwas gestehen, Maurynna.«
Zu hören, wie er ihren Namen aussprach, war wie eine zärtliche Liebkosung. Sie schmolz dahin.
Er fuhr fort: »Ich bin auch kein Dockarbeiter.«
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Als sie sich umdrehte, blendete sie ein helles Licht. Sie fragte sich, wo er plötzlich die Fackel herhatte.
Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie einen kleinen Feuerball zwischen sich und ihm in der Luft hängen. Sie löste den Blick von dem Wunder und reichte ihm eine Hand.
Und hielt fassungslos inne. Er stand mit einem wissenden, schiefen Lächeln vor ihr.
Trotzdem sie sie nie zuvor gesehen hatte, kannte sie seine Kleider nur zu gut. Hatte Otter sie ihr nicht Hunderte Male beschrieben?
Schwarzer Robenumhang, Kniehosen und Stiefel. Um die Taille ein breiter Gürtel aus flachen, ineinander verzahnten Silberplatten. Obwohl er die Hände in die Seiten gestemmt hatte, so daß das seidene Innenfutter der breiten Ärmel nicht zu sehen war, wußte sie, daß es blutrot sein würde. Ein silberfarbener, zwei
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