Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
der Sänfte kippte. Aber die Träger kannten sich aus; die vier kräftigen Männer vorn beugten die Schultern, und die vier hinteren hoben ihr Ende der Tragestäbe, und die schwere Sänfte blieb auf einer Höhe, als sie die Treppe hinaufgingen. Shei-Luin atmete erleichtert auf. Dieser Tag mußte vollkommen sein.
Xianes Sänfte verschwand in dem riesigen Tempeleingang, als ihre eigene die oberste Stufe erreichte. Vor ihr erstreckte sich der Hof, und sein weißer Marmor schimmerte in der Sonne. Unterpriester standen am Weg und sahen ehrfürchtig zu, als sie vorbeigetragen wurde.
Der Eingang ragte vor ihr auf wie ein großes, offenes Maul. Shei-Luin hob trotzig das Kinn, bereit, ihrem Schicksal entgegenzutreten.
Da war es wieder; dieses Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern, als würde jemand sie beobachten. Maurynna sah rasch über die Schulter und hoffte diesmal, jemanden zu entdecken. Aber wie immer war niemand da. Es gab nur das leere, grasbewachsene Ufer eines anderen namenlosen, kleinen Flusses. Das Gefühl wurde heftiger, verflucht, dachte sie und ballte die Fäuste, wenn ich nur wüßte, wie ich hinsehen müßte, wüßte ich, ob ich ihn oder sie oder es entdeckt hätte.
»Schon wieder?« fragte Linden, gerade als das Gefühl verging.
»Ja; jetzt ist es verschwunden, wie immer«, antwortete sie. Verfolgte sie jemand? Aber das Land war weit und flach, und niemals hätte ein Reiter sich hier verbergen können.
Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Sie fuhr herum.
»Immer mit der Ruhe, Liebste«, sagte Linden. Er war besorgt. »Geht es dir … äh …«
»Gut? Ja«, erwiderte sie gereizt. »Es ist nur, daß ich immer wieder das Gefühl habe, als wäre jemand direkt am Rand meines Blickfelds. Jemand, der mit mir sprechen möchte. Manchmal spüre ich es in meinen Träumen.«
Linden fluchte. »Mögen die Götter uns vor solchen Träumen schützen«, sagte er mit einem Nachdruck, der sie überraschte. Er holte die Pferdebürsten aus dem Gepäck. »Ich kümmere mich um die Vierfüßler«, sagte er, »wenn du unsere Decken auspackst.«
Eilig ging er davon und rief Shan und Boreal zu sich. Sie starrte ihm überrascht hinterher, die Decken an die Brust gedrückt. Otter, der pfeifend durchs Lager schlenderte, blieb stehen.
»Wenn du weiter mit offenem Mund dastehst, Rynna, wird bestimmt etwas reinspringen«, neckte er und schob mit einem Finger ihren Unterkiefer hoch. »Stimmt etwas nicht?«
Sie erzählte ihm von dem Gespräch mit Linden und schloß mit: »Und warum sollten solche Träume ihn so beunruhigen?« Sie rollte die Decken auf.
Otter zupfte an seinem Bart. »0 doch, das könnte sein.« Er hielt inne; dann beugte er sich so nahe zu ihr, daß kein anderer Drachenlord mithören könnte, und fragte: »Hat er dir je von Satha erzählt?«
Maurynna versuchte sich zu erinnern. Aber während sie jedes einzelne Mal durchging, als sie ihm die eine oder andere Geschichte über sein Leben mit ihren Helden Bram und Rani entlockt hatte, wurde ihr klar, daß Linden zwar gern alles erzählte, woran er sich erinnern konnte, aber selten von dem untoten Harfner sprach, der im Kelnethi-Krieg eine solche Rolle gespielt hatte. Eine rasche Erwähnung seines Namens und nicht mehr, und selbst das vermied er so gut wie möglich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«
Und da sie sich an den Rat erinnerte, den Otter ihr einmal gegeben hatte, hatte sie nie gefragt. Sollte sie, fragte sich Maurynna, als sie als nächstes Lindens Decke aufrollte, darauf bestanden haben, alles zu erfahren?
Otter kniete sich neben sie und fuhr fort: »So hat es mit Rani angefangen, verstehst du – Satha griff in ihre Träume ein. So erfuhr sie zum ersten Mal von ihm, auf diese Weise hat er sie dazu gebracht, ihn aus seinem Grab herauszulassen. Es erschreckte sie und war gleichzeitig anziehend. Satha war ein Harfner, der längst gestorben war, bevor Rani zur Welt kam, und der in den Fünf Königreichen sowohl für seine Stimme als auch für seine Schönheit berühmt gewesen war. Prinzen und Prinzessinnen, Könige und Königinnen, selbst Drachenlords reisten an den Kelnethi-Hof, um ihn zu hören. Seine Legenden waren in den Jahren nach seinem – ah, ich kann nicht von Tod sprechen, denn Satha ist nicht gestorben. Sein Möchtegernmörder versagte. Aber er lebte auch nicht mehr.«
Die Kühle des Morgens verursachte ihr Gänsehaut; zumindest sagte sich Maurynna, daß es daran lag. Sie rieb sich über die Arme. Sie verstand
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