Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
brauste um sie herum wie der Wind vor einem Waldbrand.
Es wird anders sein als alles, was du je erfahren hast.
Xiane hatte nicht übertrieben, dachte sie zitternd. Hier war Macht deutlich zu spüren, Macht von einer Art und Größe, von der sie nie geträumt hätte, sie sang in ihren Knochen und brannte in ihren Adern, trug sie vor sich her wie ein Fluß aus Feuer; sie war ebenso unendlich schön wie schrecklich. Shei-Luin stellte sich vor, daß sie kein Geschöpf aus Fleisch und Blut mehr war, sondern aus Flammen und Licht bestand. Traum oder Wahrheit? Sie hätte es nicht sagen können.
Dann erstarben die Stimmen erneut, bis nur noch der Hohe Priester zu hören war. Leiser und leiser wurde seine Stimme. Shei-Luin kehrte in ihren Körper zurück; abermals spürte sie Xianes Hand in ihrer. Sie konnte wieder deutlich sehen, aber ihr Kopf schmerzte, und die Welt bebte wie ein Fiebertraum.
Ihre Gedanken waren träge und wirr, und sie blickte zum Altar, als am Ende des Liedes des Priesters das Licht, das die Krone der Kaiserin schützte, flackerte, und in den weißen Quarz des Altars sank. Es glitzerte auf dem kristallenen Stein wie ein Ring aus Feuer unter einer Eisscholle.
Neben ihr schüttelte Xiane den Kopf wie ein Mann, der aus tiefem Schlaf erwacht. Sie sah, wie er die Hände ausstreckte, sie um die kleinere Krone legte und diese vom Altar hob. Er wandte sich ihr zu, die Krone hoch erhoben, und Shei-Luin drehte sich um, mit nicht mehr Willen als dem einer Marionette; es war, als führte jemand anderes ihren Körper, und sie war dankbar dafür. Sie war nicht sicher, ob ihr genug Verstand geblieben war, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie stand reglos, als Xiane die Krone senkte. Bevor er sie damit berührte, flüsterte er: »Sei bereit, Shei-Luin … es wird unbequem werden.«
Die kaiserliche Krone senkte sich auf ihre Stirn, paßte sich an ihren Kopf an, als wäre sie für sie gemacht. Xiane ließ die Hände sinken wie ein Mann, der von schwerer Arbeit erschöpft ist. Nicht einmal der dichte Nebel in ihrem Kopf konnte das kurze Aufflackern des Entzückens unterdrücken, das sie durchzuckte, als sie versuchte, unter dem plötzlichen Gewicht das Gleichgewicht zu bewahren. Sie war Kaiserin von Jehanglan!
Dann spürte sie es. Die Krone war lebendig – sie hätte es geschworen! Sie summte an ihrem Kopf wie ein Bienenstock, und die Vibrationen gruben sich tief in ihren Schädel. Sie keuchte leise vor Schmerz auf und schwankte ein wenig.
Xiane nahm besorgt ihre Hand und drehte sie um, so daß sie den Adligen und Priestern gegenüberstand, die den Tempel erfüllten. Sie klammerte sich an seine Finger, verankerte sich dort gegen den Wahnsinn und den Schmerz, der drohte, sie zu überwältigen.
»Seht meine Erste Gemahlin!« rief Xiane. »Seht die Kaiserin von Jehanglan, die Erlauchte Phönixherrscherin!«
Obwohl sie nicht richtig sehen konnte – Gesichter aus der Menge rasten auf sie zu, zuckten dann zurück; Farben verschwommen, und Formen verliefen –, sah Shei-Luin, wie die Versammlung sich verbeugte. Sie verbeugten sich vor ihr, der Tochter eines verachteten Exilierten. Der Geschmack des Sieges war süßer als jeder Honig.
Aber wenn sie diese verfluchte Krone noch länger tragen müßte, würde sie ohnmächtig werden.
Irgendwie schien Xiane das erraten zu haben. Er riß ihr die Krone beinahe vom Kopf und setzte sie vorsichtig wieder an ihrem Platz am Altar ab. Plötzlich verschwand das Gefühl von Bienenstacheln, die sich in Shei-Luins Schädel bohrten, obwohl ihr immer noch elend und schwach zumute war. Sie glaubte, daß die Priester beunruhigt dreinschauten, aber nach all den Täuschungen konnte sie nicht sicher sein. Sie schloß die Augen.
Während sie sich darauf konzentrierte, aufrecht zu stehen, erhoben die Priester abermals ihre Stimmen zu einer Rezitation. Sie lauschte, als sich andere anschlossen und die Luft schwer wurde von Macht, die ihr in den Nacken drückte wie eine unsichtbare Hand.
»Die Krone ist wieder versiegelt«, flüsterte Xiane, als das Lied zu einem leisen Flüstern verklang. »Wir können in den Palast zurückkehren. Kostbare Blüte, kannst du dich bewegen?«
Sie nickte, die Augen immer noch geschlossen. Sie würde tun, was sie tun mußte. Sie holte tief Luft und schaute noch einmal zu den Priestern und Adligen hin. Plötzlich war sie froh, daß die Zeremonie so rasch organisiert worden war, daß sie schlicht gehalten werden mußte, anders als Xiane es von seiner
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