Drachenmonat
erfundene Großmutter. »Woher kommt ihr?«
Vielleicht war Eva-Karin siebzehn, aber sie stellte Fragen wie eine Dreijährige. Ich wusste nicht, wie weit es noch war, aber bevor wir ankamen, würde sie uns nach allem ausgefragt haben, was seit unserer Geburt passiert war.
Ich nannte den Namen der Stadt, die wir verlassen hatten.
»Da wohne ich«, sagte Eva-Karin. »Ich hab euch noch nie gesehen.«
»Die Stadt ist ja nicht gerade klein«, sagte ich.
»Willst du mich veräppeln?«
»Nur ein bisschen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Wie heißt du, schöner Junge?« Vielleicht veräppelte sie mich und war doch nicht ganz so bescheuert. Wenn sie Humor hatte, konnte sie nicht ganz beschränkt sein. »Ulf.«
»Und du?«, fragte sie Kerstin. »Lotta.«
»Und wie heißt du?«, fragte ich.
»Eva-Karin«, antwortete sie und holte eine Packung Juicy-Fruit-Kaugummi hervor, zupfte das Papier an einer der Schmalseiten ab und steckte sich eins in den Mund. Dann sah sie uns an und hielt uns die Packung hin. »Wollt ihr auch?«
»Seid ihr getürmt?«
Wir waren nur wenige Kilometer gefahren. Aber draußen wurden es immer mehr Häuser. Das bedeutete, dass wir uns der Stadt näherten.
»Wie? Was?«, sagte ich.
»Ich frage, ob ihr von zu Hause getürmt seid.«
»Warum sollten wir?«
Eva-Karin sah nicht aus, als würde sie Radio hören, jedenfalls nicht die Nachrichten. Denn dann hätte sie schon gewusst, dass man nach uns fahndete.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Deswegen frage ich doch.«
»Fragst du immer alle Leute, ob sie von zu Hause abgehauen sind?«, sagte ich.
»Ihr seht aus, als wärt ihr abgehauen«, sagte sie.
»Wie sieht man dann aus?«
»Wie ihr!«
»Wir sind abgehauen«, sagte Kerstin. Eva-Karin hörte auf zu kauen. Sie sah mich an, als erwarte sie, dass ich sagte, Kerstin mache nur einen Witz.
»Wir hauen zur Großmutter ab«, sagte ich. »Man kann doch nicht zu einer Großmutter abhauen«, sagte Eva-Karin. »Dann kennst du Großmutter nicht«, sagte ich. »Was?«
»Oder Mutter.«
»Jetzt kapier ich gar nichts mehr.«
»Was willst du in der Stadt?«, fragte Kerstin. »Willst du jemanden besuchen?«
»Nein. Ich will mich um einen Job bewerben.«
»Was für einen?«
»In einem Cafe, die Kasse bedienen. Aber was ist denn nun mit euch? Seid ihr wirklich abgehauen?«
»Wenn du es niemandem erzählst«, sagte Kerstin. »Niemand weiß es«, sagte ich. »Werdet ihr schon gesucht?«
»Nicht, soviel ich weiß. Noch nicht.«
»Oh.«
»Du darfst es niemandem erzählen.«
»Ich kenne da sowieso niemanden.«
»Auch nicht, wenn du nach Hause kommst.«
Wir passierten die Stadtgrenze. Auch hier stand ein Willkommens-Schild. Hundert Meter entfernt neben einer großen Scheune sah ich den Jahrmarkt. Die Schausteller waren dabei, ihn aufzubauen, einige Karusselle standen schon. Auf der Wiese waren Autoscooter aufgereiht. Sie sahen wie vom Weg abgekommen aus. Plötzlich stieg ein Balkon von einem Zelt auf, wie ein Signal.
»Das mit der Großmutter ist gelogen, oder?«, sagte Eva-Karin.
»Nein«, sagte Kerstin. »Aber zu ihr müssen wir noch weiterfahren.«
»Heute?«
»Vielleicht gehen wir erst auf den Jahrmarkt«, sagte ich.
Eva-Karin hatte ihn auch entdeckt. Gerade wurde ein großes Zelt aufgerichtet, das für das Variete bestimmt war. Ein Variete war immer dabei. Darin traten ein Jongleur und ein Zauberer auf. Als der Jahrmarkt im letzten Jahr in unserer Stadt gewesen war, hatte es auch einen Fakir gegeben, der sich auf Glasscherben legte. Die dicksten Leute aus dem Publikum wurden auf die Bühne geholt und durften sich auf den Fakir setzen. Er hieß Mister Swing. Ich hatte ihn auf einem Bild auf dem Plakat gesehen. Er sah aus, als käme er aus Arabien. Auf dem Plakat stand, dass er auch Glühlampen aß und ein Schwert schluckte.
»Gehst du hin?«, fragte ich. »Zum Jahrmarkt?«
»Nee, ich fahr wieder nach Hause, wenn ich mit denen über den Job geredet habe. Der Jahrmarkt wird wohl erst heute Abend eröffnet.«
Jetzt waren wir an dem Feld vorbei und erreichten die Stadt.
»Und das macht sowieso keinen Spaß«, sagte Eva-Karin.
»Hast du das Variete gesehen?«, fragte ich.
»Nee, man wird erst mit achtzehn reingelassen.«
Der Bus hielt vorm Bahnhof, und wir stiegen aus.
Eva-Karin legte Kerstin eine Hand auf die Schulter.
»Wie heißt deine Großmutter noch?«
Kerstin antwortete nicht sofort. Sie sah mich nicht an. Ein mit Bauholz beladener Laster donnerte vorbei. Ein Bus rollte auf
Weitere Kostenlose Bücher