Drachenmonat
Bauch nur halb bedeckte.
»Würde deine Mutter das nicht merken?«, fragte ich.
»Doch …«
»Wir bleiben hier«, sagte Kerstin.
»Aber wo wollt ihr schlafen?«, fragte Ann.
Kerstin antwortete nicht.
»Es ist kalt geworden«, sagte Ann, »und windig.«
»Wir fragen Mister Swing«, sagte ich. »Ist der nicht lebensgefährlich?«, fragte Ann. »Er ist nett«, sagte Kerstin.
Ich sah Klops an, was er von Mister Swing hielt. Ihm spukte immer noch der Mörder im Kopf hemm. Im vergangenen Sommer hatte er auch von Mördern geredet. In allen Städten gibt es Mörder, hatte er gesagt, auch in diesen kleinen Städten.
Wenn ich ein Mörder wäre, würde ich nicht aussehen wie Mister Swing. Ich würde ganz normal aussehen und kaum auffallen auf der Straße. Ich würde nur durch meine Schwerter auffallen. Wenn der Mörder kam, war ich bereit. Ich würde ihn erkennen, selbst wenn er wie der Weihnachtsmann aussah.
Mister Swing saß vor seinem Wohnwagen. Gesicht und Oberkörper waren immer noch schwarz. Vor ihm standen eine Flasche und ein Glas. Er sah erstaunt aus, als er uns bemerkte. »Ihr seid immer noch da?«
»Wir wissen nicht, wo wir schlafen sollen«, sagte ich.
»Herr im Himmel, auch das noch.« Er strich über sein Gesicht. Dort, wo sie nicht unter dem Bart versteckt war, war seine Haut wie ein Zebrafell gestreift. Er nahm einen Schluck aus dem Glas. Der Inhalt roch nach Schnaps. Ich sah Kerstin an, dass sie plötzlich Angst bekam.
»Wir haben gesehen, dass es gebrannt hat«, sagte ich.
»Das war Schei… es ist mir zum ersten Mal passiert«, sagte Mister Swing.
»Was ist passiert?«
»Eigendich nichts. Ich hab wie immer einen Mundvoll Benzin genommen und es durch das Feuer geblasen, und plötzlich hat die Zeltplane Feuer gefangen.« Er schüttelte den Kopf, wie ich ihn vorher schon den Kopf hatte schütteln sehen. »Einfach unglaublich.«
»Aber das kann doch passieren?«, sagte ich. »Wenn man Feuer in einem Zelt spuckt, kann die Plane doch Feuer fangen?«
Er sah mich mit einem Auge an. Das andere war von Ruß verkleistert. »Willst du mich vergackeiem, Junge?«
»Nee, wieso?«
»Ich weiß, was ich tue«, sagte er. Ich nickte.
»Die Polizei war da und hat mit mir geredet. Vielleicht muss ich mit der Feuerschluckerei aufhören.«
»Das wäre aber schade.«
»Eigendich nicht. Früher hat das Benzin besser geschmeckt!«
Er lachte ein Lachen, das wie Felsbrocken über den Platz vor seinem Wohnwagen rollte.
»Ich hab an euch gedacht, als ich mit den Bullen geredet habe. Möchte wissen, wo die Kinder sind, hab ich gedacht.«
»Wir sind den ganzen Abend hier gewesen«, sagte Kerstin.
Mister Swing betrachtete sie mit seinem einen Auge. Jetzt sah er aus wie ein Seeräuber. Der Ruß um das andere Auge wirkte wie eine Augenklappe.
»Du bist müde, Mädchen.«
Plötzlich stand er auf. Ich zuckte zusammen. Die Flasche fiel vom Tisch und landete auf dem Schotter, ging aber nicht kaputt. Mister Swing schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sie heruntergefallen war.
»Dagegen müssen wir was unternehmen«, sagte er. »Wartet hier.«
Wir warteten. Der Wind hatte zugenommen. Er rollte die Flasche auf dem Schotter hin und her. Das erzeugte ein Geräusch wie eine alte Tür, die geöffnet und geschlossen wurde.
Die meisten Lichter auf dem Jahrmarkt waren jetzt erloschen. Ich sah den Mond wie einen blauen Ballon am wolkenlosen nächtlichen Himmel über den Bäumen hinter dem Feld hängen, auf dem der Jahrmarkt aufgebaut war. Heute Abend war Vollmond, oder wenigstens fast. Manchmal blitzte ein Stern auf neben dem Mond. Er sah aus, als könnte er jeden Augenblick im Kartoffelacker versinken.
Als ich »Kartoffelacker« dachte, fiel mir Essen ein. Im Backofen gebratene Kartoffeln, die wie Goldklumpen aussahen, wenn man das Blech aus dem Ofen zog. Kartoffelbrei mit einem Klacks Butter, die zu schmelzen begann. Gekochte Kartoffeln mit Sahnesoße, Preiselbeeren, Gurken und Fleischklößchen. Bratkartoffeln mit gebratener Fleischwurst. Steak mit Zwiebeln und Kartoffelkuchen. Gebratener Schellfisch mit Kartoffelbrei und grünen Erbsen. Im Backofen gebratener Hecht mit überbackenem Kartoffelbrei. Ich hatte Hunger. Solchen Hunger hatte ich noch nie gehabt. Auch wenn wir einen Schlafplatz fanden, würde ich nicht einschlafen können, bevor ich nicht etwas gegessen hatte. Aber die Würstchenbude des Jahrmarkts war schon geschlossen. Wie hatten wir nur das Essen vergessen können, solange sie noch geöffnet hatte?
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