Drachenmonat
einen Schlüssel.«
»Ich bewache es trotzdem.«
Siv Beckman sah Lasse an, als wollte sie etwas Ärgerliches sagen, aber dann drehte sie sich schnell zu uns um. »Der Kanal ist links«, sagte sie.
Wir gingen an der Kirche vorbei. Dahinter war der Kanal. Am Wasser führte ein Spazierweg endang. Ich zeigte die Richtung an. »Bist du sicher?«
»Ich hab das große Hotel erkannt«, sagte ich. »An dem bin ich mit Großmutter vorbeigegangen.«
»Was meinst du, wie weit es bis zu deiner Großmutter ist?«
»Daran kann ich mich nicht genau erinnern.«
»Wir können am Kanal endangfahren«, sagte sie. »Lasst uns zum Auto zurückgehen.« Lasse wartete vorm Auto. »Niemand hat das Auto geklaut«, sagte er. »Das sehe ich«, sagte sie.
Oben auf der Veranda lachte jemand, und mir fiel ein, dass ich mit Vater dort gewesen war, als wir Großmutter besucht hatten. Wir hatten an einem Tisch gesessen, und Vater hatte Bier getrunken und ich Limo. Es war ein feierliches Gefühl gewesen. Vater hatte ungefähr so gelacht wie der eben auf der Veranda.
»Steigt ein«, sagte Siv Beckman.
Wir stiegen ein, und sie setzte zurück.
Wir fuhren am Kanal endang.
Dann entdeckte ich Großmutters Haus.
»Da ist es!«
»Welches denn?«
»Das gelbe Haus dahinten.«
Über den Kanal führte eine Brücke. Siv Beckman fuhr hinüber und parkte vorm Haus.
»Geht rein und klingelt«, sagte sie. »Ich warte hier.«
»Ich warte auch«, sagte Lasse. »Ich muss ja wissen, wie ihr zurechtkommt.«
Wir stiegen aus und gingen auf das Haus zu. Unter unseren Schuhen knirschte der Schotterweg.
»Wohnt deine Großmutter wirklich hier?«, fragte Kerstin.
»Ja. Im ersten Stock.« Ich zeigte zu den Fenstern hinauf.
»Da brennt nirgendwo Licht«, sagte Kerstin.
»Vielleicht ist sie schon schlafen gegangen.«
»So früh?«
»Sie ist alt«, sagte ich.
Die Haustür stand halb offen. Ein Scharnier schien sich festgeklemmt zu haben. Die Tür ließ sich nicht bewegen.
Wir stiegen die Treppe hinauf, und ich klingelte an Großmutters Tür, an der ihr Name stand. Ich wartete und klingelte noch einmal.
Niemand öffnete.
»Komisch«, sagte ich und klingelte erneut.
»Sie ist nicht zu Hause«, sagte Kerstin. »Die Wohnung ist ja auch dunkel.«
Wir gingen wieder zu Siv Beckman und Lasse hinunter. Sie stand vor dem Auto.
»Sie ist nicht zu Hause«, sagte ich.
»Herr im Himmel«, sagte sie.
20
Siv Beckman wohnte in einem weiß und grün gestrichenen Haus. Damm hemm war ein kleiner Garten. Es war ein schönes Haus.
»Ja, es war eine gute Scheidung«, antwortete sie, als Kerstin fragte, ob sie hier allein wohnte. »Mein Exmann hat eine Fahrkarte ohne Rückreise bekommen und ich das Haus.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
Sie parkte vor dem Garagentor. »Aber jetzt hab ich zwei am Hals.«
»Wir kommen allein zurecht«, sagte ich. »Sollte ich euch einfach vor dem Haus stehen lassen?«, fragte sie.
Wir hatten bei Großmutters Nachbarn angerufen, aber niemand wusste etwas. Schon seit mehreren Tagen hatte sie niemand mehr gesehen. Allein konnte Großmutter nicht weggehen. Vielleicht kannte sie jemanden mit Auto, der sie zu einem Ausflug mitgenommen hatte. Oder sie war ins Krankenhaus gekommen. Vielleicht sollten wir in den Krankenhäusern nachfragen. Aber das konnten wir dann genauso gut zusammen mit der Polizei machen. Man würde uns ja sofort erkennen.
»Wohnt deine Großmutter allein?«, hatte Siv Beckman mich gefragt, als wir auf dem Weg zu ihrem Haus waren.
»Ja, natürlich.«
»Dann sorgt sie also für sich selbst?«
»Sie kann kaum laufen, aber sie schafft es anscheinend.«
»Und du bist sicher, dass sie dort wohnt?«
»Ihr Name stand doch an der Tür, oder?«
»Den kannst du ja erfunden haben und behaupten, es sei der Name deiner Großmutter.«
»Warum sollte ich ihn erfinden?«
Siv Beckman hatte nicht geantwortet.
Wir gingen gerade auf ihr Haus zu, Lasse immer hinterher.
»Muss ich mich auch um Sie kümmern?«, sagte Siv Beckman, aber sie lächelte.
»Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir den beiden helfen können«, sagte Lasse.
»Aber erst brauchen wir was zu essen«, sagte sie.
Sie deckte den Tisch mit Brot, Butter und Käse. Dann stellte sie sich an den Herd und briet Eier mit Schinken. Es waren auch noch ein paar Äpfel da.
»Mehr hab ich nicht im Haus«, sagte sie.
»Das ist doch prima«, sagte Lasse.
Wir aßen schweigend. Kerstins Rucksack lag auf dem Fußboden neben ihrem Stuhl, als wollte sie sofort gehen,
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