Drachenmonat
Küche, wie sie es oft tat. Sie war nicht im Wohnzimmer. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Hinter mir hörte ich Lasse etwas zu Kerstin sagen, das ich nicht verstehen konnte. Ich spürte, wie mein Herz hämmerte, als ich die Schlafzimmertürklinke herunterdrückte. Es war nicht abgeschlossen. Während ich die Tür aufschob, dachte ich, wie merkwürdig das war, dass sie geschlossen war. Großmutter brauchte keine Türen zu schließen, sie war allein. Dann sah ich das offene Fenster. Es war kalt im Zimmer. Die Gardine bewegte sich im Wind. Ein Luftzug musste die ScHafzimmertür zugeschlagen haben.
»Großmutter!«
Ich sah, dass jemand im Bett lag. Großmutters Gehwagen stand neben dem Bett. »Großmutter!«
Ich ging zum Bett. Es musste Großmutter sein, die dort lag, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen.
Ich streckte eine Hand aus und zog die Decke langsam von ihrem Kopf. In dem Augenblick hatte ich wirklich Angst. Meine Hand zitterte, und mein Herz raste. Ich hörte, dass jetzt Lasse und Kerstin an der Tür hinter mir waren.
Ich sah Großmutters Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen.
»Großmutter«, sagte ich, »ich bin’s, Kenny.«
Sie öffnete die Augen, sie sah mich nicht direkt an, sondern gerade gegen die Wand, als könnte sie ihre Augen nicht bewegen.
»Bist du krank, Großmutter?«
Da nahm ich den Geruch wahr. Großmutter hatte nicht zur Toilette gehen können. Vielleicht konnte sie sich überhaupt nicht mehr bewegen.
Aber sie lebte.
»Wir brauchen schnell einen Krankenwagen«, sagte Lasse. Er stand jetzt neben mir.
»Großmutter hat kein Telefon«, sagte ich.
»Aber auf dem Weg hierher habe ich eine Telefonzelle gesehen«, sagte Lasse. »Es sind nur ein paar Hundert Meter bis dort.«
Ich nickte. Ich hatte sie auch gesehen. »Ich wähle die Notrufnummer«, sagte Lasse und ging. »Vielleicht glauben sie dir nicht«, sagte ich. »Vielleicht kommen die gar nicht.«
»Die glauben mir«, sagte Lasse über die Schulter. »Warum?«
»Ich weiß, was man sagen muss. Schließlich war ich mal Polizist, oder?«
Kerstin und ich standen in den Büschen vorm Haus und sahen, wie der Krankenwagen auf dem Schotterweg hielt. Jemand im zweiten Stock öffnete ein Fenster und schaute heraus.
Lasse hatte an der Haustür auf den Krankenwagen gewartet.
»Ich hab gesagt, dass ich auf sie warte«, hatte er erzählt, als er vom Telefonieren zurückgekommen war. »Ich war bloß jemand, der zufällig vorbeigekommen ist, und ich hab der Polizei versprochen, zu warten und den Sanitätern den Weg zu zeigen.«
Den zeigte er ihnen jetzt.
Zwei Sanitäter gingen mit einer Trage ins Haus und kehrten einige Minuten später mit Großmutter zurück. Sie war auf der Trage festgebunden.
»Was für ein Glück, dass wir noch mal zurückgekommen sind«, sagte Kerstin.
»Das kann nicht nur Glück gewesen sein«, sagte ich.
»Hoffentlich wird deine Großmutter wieder gesund«, sagte Kerstin.
»Wir fahren ins Krankenhaus.«
Kerstin nickte.
»Und es soll uns egal sein, wenn die Polizei uns schnappt«, sagte ich. »Vielleicht hilft Lasse uns.«
Der Krankenwagen fuhr davon. Lasse kam zu dem Gebüsch, wo wir standen. »Ich möchte ins Krankenhaus«, sagte ich. »Okay.«
»Vielleicht hätte ich im Krankenwagen mitfahren sollen.«
»Da kommt Siv«, sagte Lasse. »Sie fährt uns bestimmt.«
»Ist nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen?« Siv Beckman blieb vor uns stehen. »Bitte ins Krankenhaus«, sagte Lasse. »Was ist passiert?«
»Großmutter wird gerade dort eingeliefert«, sagte ich. »Steigt ein.«
Wir stiegen ein, und sie fuhr los. »Ich weiß nicht, warum ich all das mache«, sagte sie. »Vielleicht, weil es ein bisschen spannend ist«, sagte Lasse. Für mich war es überhaupt nicht spannend. Ich machte mir Sorgen um Großmutter. Es war eine schreckliche Vorstellung, dass sie vielleicht mehrere Tage so gelegen hatte, ohne dass jemand es gemerkt hatte. Ich dachte an Mutter, die in ihrem weißen Bett in dem großen weißen Saal im Irrenhaus lag. Sie wusste nicht, was mit Großmutter passiert war. Und Großmutter wusste vielleicht nicht, was Mutter passiert war. Ich war der Einzige in der ganzen Familie, der es wusste.
Ich sah ein Schild und dann noch eins.
»Das Krankenhaus«, sagte ich.
»Fahren Sie direkt zur Notaufnahme«, sagte Lasse.
In dem Moment entdeckten wir das Schild, das den Weg zur Notaufnahme wies. Vor den großen Glastüren standen mehrere
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