Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
verschlagen hatte. Wenn es hier trotz der grundsätzlichen Gegebenheiten keine Textilindustrie gab, dann hatte das vermutlich ernste Gründe. Es wäre dumm, deswegen in die Fänge der örtlichen Inquisition zu geraten oder womöglich der Zunft der Hosenschneider
in die Quere zu kommen … am Ende würden sie ihn einfach an der nächsten Ecke mit vergifteten Nähnadeln erdolchen.
Und zum ersten Mal erfasste ihn der Hauch des ABEN-TEUERS.
Mit großen Buchstaben geschrieben.
Gestern war er noch wandelndes Frachtgut gewesen, ein Schlappschwanz auf zwei Beinen, der sich mühsam hinter Tel herschleppte, aber heute hatte sich etwas geändert. Vielleicht lag es an dem seltsamen Traum oder an Radas erfrischendem Getränk oder an dem überflüssigen, aber doch angenehmen Begleitschutz hinter ihm, jedenfalls fühlte sich Viktor wie ein Forscher, wie ein begeisterter Museumsbesucher.
Schließlich war er satt, gesund, mit Kleidern und Schuhen versehen. In seinen Taschen trug er ein anständiges Sümmchen Geld bei sich sowie kostbare Steine, die offensichtlich noch mehr wert waren. Vor ihm lag eine merkwürdige, idyllische Welt, wo es Errungenschaften der Zivilisation gab, jedoch nur die guten, und ein Meer unbekannter Dinge und Wesen. Elfen, Gnome und Untote, die man hinter die Graue Grenze abgeschoben hatte. Was es hier wohl noch alles zu erkunden gab?
Hehe! Er war zu allem bereit!
Die Straße war zu Ende und mündete in einen kleinen Bahnhofsvorplatz. In diesem Dorf führten wahrscheinlich alle Wege zum Bahnhof, so wie es in allen kleinen Dörfern in allen Welten üblich ist. In der Mitte des Platzes stand ein Brunnenbecken, ausgetrocknet und voller Abfall, aber trotz alledem nett anzusehen: Zweige, Laub und Bündel getrockneten Grases quollen heraus. Der Brunnen wirkte eher wie der Tempel eines Waldgeistes denn wie ein improvisierter
Abfalleimer. Vor dem Bahnhof, und auch das ist wohl in allen Welten auf der ganzen Erde gleich, reihten sich hölzerne Verkaufstische, hinter denen alte Weiblein auf Kundschaft warteten.
Mit eifriger Neugier strich Viktor die Stände entlang und betrachtete die Waren. Das Fehlen von Schokoriegeln, Einwegwindeln und weiblichen Hygieneartikeln war Balsam für seine Seele.
Die Frauen verfielen bei seinem Anblick keineswegs in Geschäftigkeit und versuchten auch nicht, seine Aufmerksamkeit mit anpreisenden Rufen auf sich zu lenken. Es waren ernste Alte, die ihren Preis kannten und sich nicht um des Handels willen versammelt zu haben schienen, sondern um hier den Tag zu verbringen.
Zunächst sah er nur Lebensmittel: Milch, Sauerrahm, Sahne in feuchten Lehmkrügen, Schichtkäse in Tüchern und Körben, kleine Keramikgefäße mit Honig, dessen Farbe von blauschwarz bis milchig weiß variierte, als ob die Bienen hier wüssten, wie man Kühe melkt. Von seinem Duft lief Viktor die Spucke im Mund zusammen, obwohl er satt war. Der Honig wurde zur Abwechslung von einem Mann angeboten. Er war ein prächtig anzusehender Alter mit einem gewaltigen Bart, einem Haarkranz um seine Glatze und kleinen, schlauen Äuglein. Offenbar hatte er Viktors Reaktion auf seine Ware bemerkt und lächelte zufrieden. Ohne zu verhandeln, erwarb Viktor ein ordentliches Stück Honigwabe für drei Kupfermünzen. Während er weiterschlenderte, saugte er abwechselnd den frischen durchsichtigen Honig aus der Wabe und kaute auf dem geschmeidigen Wachs herum.
Auch seine Eskorte hielt bei dem Imker, und der Grenzer kaufte für jeden seiner Söhne ein Stück Honigwabe. Viktor
konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Im Übrigen war es eine gute Idee – die Söhne, besonders die jüngeren, bissen mit offenkundiger Freude in ihre Waben.
Zwei Alte, vermutlich Schwestern, boten alle Arten von Kleidung feil. Viktor ging erst vorbei, dann kehrte er um. Für seine Reise ins Unbekannte war es sinnvoll, sich auszurüsten. Er kaufte Wäsche zum Wechseln und wunderte sich darüber, dass die augenscheinlich handgenähten Unterhosen durchaus einen tragbaren Schnitt aufwiesen und ganz und gar nicht hausbacken wirkten.
»Wie für dich geschnitten, mein Lieber«, sagte die eine fachkundig und blickte Viktor wohlwollend an.
Schlichte Gemüter sind das hier, dachte Viktor.
Im Moment war Viktor genau richtig für das Wetter angezogen. Aber es konnte nicht schaden, an die Zukunft zu denken. Zum Beispiel an Regen. Von Osten her zogen allmählich Wolken auf …
Zwei schwarze Lederjacken lagen auf dem Tisch, aber beide kamen Viktor reichlich klein
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