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Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat

Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat

Titel: Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Licia Troisi
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rührt sich
    Der Junge flog über brach liegende Felder, die in der Stille der Nacht schlummerten und folgte dem Lauf des Sabato. Er sah, wie der Fluss schmaler und schmaler wurde und sich immer tiefer durch raue Schluchten schlängelte. Über einer bestimmten Stelle kreiste er drei-, viermal und schwebte dann zu Boden. Die Flügel zogen sich zurück, die metallene Kette längs seiner Wirbelsäule rollte sich ein und verschwand unter dem T-Shirt.
    Er fröstelte. Es war wirklich ein kalter Januar, und sein Hemd und sein T-Shirt wärmten nicht mehr, weil sie schon an mehreren Stellen aufgerissen waren. Er zog die verbliebenen Fetzen enger über seiner Brust zusammen und blickte sich dabei suchend um. Es war ein trostloser Ort. Gemächlich strömte der Fluss dahin, bahnte sich seinen Weg zwischen Abfallhaufen, wobei sein Plätschern sich wie ein Schluchzen anhörte.
    ›Vielleicht der passende Ort für Leute wie mich‹, dachte der Junge zornig.
    »He, bist du da!?«, rief er. »Ich hab nicht so lange Zeit!«
    Nur der Ruf eines Käuzchens antwortete ihm.
    »He, komm schon!«, rief er noch einmal lauter.
    Es raschelte. Der Junge fuhr herum und sah, wie jemand mit gelassenen, eleganten Bewegungen zwischen den Müllbergen auftauchte: Ein sehr gut aussehender Mann von vielleicht dreißig Jahren, mit kupferroten Haaren, die ihm weich ins Gesicht fielen und ein Auge verdeckten. Hin und wieder strich er sich mit einer affektierten Geste die Haarsträhne zurück. Er war groß, schlank und tadellos gekleidet: helle Hose und ein Jackett in der gleichen Farbe über einem zartrosafarbenen Hemd. Um den Hals hatte er einen weichen Kaschmirschal geschlungen. Mit langen Schritten, so als fliege er über die Abfallhaufen, kam er näher.
    »Was schreist du denn so?«, fragte er mit einem verkniffenen Lächeln.
    Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust. »Weil ich keine Lust hab, mir noch länger die Beine in den Bauch zu stehen. Warum kommst du nicht? Mir ist kalt.«
    Der Mann war stehen geblieben und funkelte den Jungen streng an. »Wer hat dir erlaubt, so mit einem Vorgesetzten zu sprechen?«
    Der hielt seinem Blick stand.
    »Beug das Knie.«
    Der Junge lächelte nur. »Spiel dich nicht so auf, Ratatoskr. Wir sind doch beide Knechte. Du weiß genauso gut wie ich, dass es hier nur einen gibt, vor dem wir niederknien müssen.«
    »Da irrst du dich, Fabio«, erwiderte der Ältere. »Du bist auf jeden Fall ein Knecht. Ich aber bin weit davon entfernt.«
    Der Junge musste den Blick senken. »Wegen der Flügel solltest du dir aber etwas einfallen lassen«, sagte er. »Das kann nicht sein, dass ich jedes Mal, wenn ich sie hervorgeholt habe, ein T-Shirt wegschmeißen muss. Ich bin knapp bei Kasse.«
    Ratatoskr kicherte. »Da sieht man den Unterschied zwischen uns beiden. Ich mache wegen solcher Albernheiten nicht so ein Theater.«
    Fröstelnd verknotete Fabio die Arme noch enger. »Was ist jetzt? Können wir?«
    Der Ältere blickte ihn lange an. »Gibt’s was Neues?«, fragte er dann.
    »Ja, schon.«
    Ratatoskr seufzte. »Gut, dann los«, sagte er, wobei er die Hände zu Fabio ausstreckte.
    Widerwillig löste dieser die Arme und ergriff die Hände vor ihm. Sie waren eiskalt. Das war ihm an diesem Typen als Erstes aufgefallen, als dieser bei ihm aufgetaucht war. Seine Glieder schienen keinerlei Wärme auszustrahlen, so als wäre das Blut eiskalt, das seine Adern durchströmte. Zunächst hatte ihn diese Tatsache beunruhigt: Kein menschliches Wesen konnte derart kalte Hände haben.
    Eben, kein menschliches Wesen. Und gerade wegen dieser eiskalten Hände hatte er dessen unglaubliche Geschichte zu glauben begonnen. Ihm war nämlich eingefallen, dass sich die Reptilien, die er als kleiner Junge gefangen hatte, ähnlich glitschig und kalt angefühlt hatten.
    Jetzt verstärkte er den Griff um die Hände des anderen und schloss die Augen.
    »O ewige Schlange, wir rufen dich an in den Tiefen deines Kerkers, erhöre unser Flehen«, beteten sie im Chor.
    Jedes Geräusch verklang, und schlagartig erloschen die Sterne am Himmel. Um das Flussbett herum stieg die Finsternis auf, breitete sich aus und erklomm die Felsen der Schlucht, verschluckte alle Umrisse, bis nichts mehr war als undurchdringliche Dunkelheit. Nidhoggr … Noch bevor er ihn erblickte, spürte Fabio ihn, und wie immer begann er zu beben. Noch hatte er sich nicht an das Grauen gewöhnt, das dieses Wesen ausstrahlte, und noch weniger an seine Allmacht, dieses Gefühl, zermalmt zu werden

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