Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
Fieber gekommen, das nicht mehr sinken wollte. Die letzte Erinnerung an seine Mutter war das Bild, wie sie in dem Krankenhausbett lag und die Ärzte neben ihr den Kopf schüttelten und mit den Achseln zuckten. Da war er acht Jahre alt gewesen.
Damit hatte seine Irrfahrt begonnen, von einem Waisenhaus zum anderen, die alle mehr oder weniger gleich waren. Die gleichen Schimmelflecken an den Wänden, die gleichen Fußböden mit den zersprungenen Fliesen. Gleich waren auch die Blicke der Menschen, die dort arbeiteten. Verächtliche, verurteilende Blicke.
Fabio hasste sie. Alle. Fast ein Dutzend Waisenhäuser lernte er in vier Jahren kennen. In keinem war er länger als sechs Monate geblieben. Denn er war nicht wie die anderen. Weil er vor nichts Angst hatte. Weil er, als seine Mutter gestorben war, beschlossen hatte, sich fortan nicht mehr klein zu machen: Wenn es schon sein Schicksal war, allein zu bleiben – wegen seiner Andersartigkeit und seiner besonderen Kräfte – dann war es besser, sich über die anderen zu erheben, anstatt sich in eine Ecke zu verkriechen und herumzujammern.
Er war immer der Erste, der sich prügelte, er stahl, wenn er etwas brauchte, er log, wenn es Vorteile versprach. Wenn er Flammen auflodern ließ, jubelte er innerlich angesichts der Gewalt, mit der sie zerstörten – klar, rein, unwiederbringlich –, genoss den Schrecken, den sie bei seinen Opfern verbreiteten. Es war die Panik vor dem Unbekannten und dem Unverständlichen.
›Ich stehe über ihnen, ich bin etwas Besseres als sie‹, sagte er sich und fühlte sich gut dabei.
Sich adoptieren zu lassen, daran verschwendete er keinen Gedanken. Er hatte schon einmal eine Familie gehabt, und nachdem diese zerstört war, wollte er keine neue haben. Es wäre ihm wie ein Verrat an seiner Mutter vorgekommen, wenn er es anderen Armen erlaubt hätte, ihn zu drücken, anderen Händen, ihn zu versorgen.
Dann war eines Tages Ratatoskr im Schlafsaal seines Waisenhauses aufgetaucht. Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an ihm. Er sah aus wie ein ganz normaler, gut gekleideter Mann. Zunächst hatte Fabio noch geglaubt, er müsse träumen, nicht zuletzt, weil keines der anderen Kinder in den Betten neben ihm wach geworden war.
»Wer bist du?«, hatte er unsicher gefragt.
»Ich bin dein Retter«, antwortete Ratatoskr mit einem Lächeln. Dann gab er ihm die Hand, und Fabio hatte zum ersten Mal diese Eiseskälte gespürt, die er nie mehr vergessen würde.
»Ich muss mit dir reden. Aber nicht hier«, hatte der nächtliche Besucher hinzugefügt und sich umgeblickt. »Folge mir!«
»Ich darf den Schlafsaal nicht verlassen. Wenn man mich erwischt, werde ich bestraft«, hatte Fabio zögernd erwidert.
»Die Zeiten, da du Angst haben musstest, sind endgültig vorbei«, erklärte da der andere bestimmt. »Folge mir, und ich werde dir alles erklären.« Und damit ging er, ohne noch etwas hinzuzusetzen, voraus.
Einen kurzen Moment hatte Fabio noch gezaudert. Dann aber folgte er ihm – wieso, wusste er selbst nicht so genau – durch die langen Gänge des Heimes, in denen wundersamerweise keine Aufsichtspersonen zu entdecken waren. Niemand hielt sie auf, und als dieser Fremde das schwere Tor aufstieß, hatte es keinerlei Widerstand geleistet. Dann standen sie in dem kleinen, vom Mondlicht beschienenen Innenhof und unterhielten sich.
Wie sich schnell herausstellte, wusste Ratatoskr alles über Fabio. Er wusste von seinen geheimnisvollen Kräften und dass er Feuer hervorbringen konnte, wusste von dem Leben, das er bisher geführt hatte.
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe mich mit dir beschäftigt. Du bist etwas Besonderes, und mein Herr sucht junge Leute wie dich.«
Und dann hatte er ihm einen Vorschlag gemacht.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben, denn ich werde dir beibringen, wie du deine Kräfte beherrschen kannst. Auch ich hatte am Anfang Schwierigkeiten, mich zu kontrollieren, und deswegen hielten mich alle für ein Ungeheuer. Doch dann hat er mich gefunden und mir alles beigebracht. Stell dir mal vor, was du dann alles kannst: Du kannst es allen heimzahlen, die dich in deinem Leben erniedrigt haben, kannst sie bestrafen für das, was sie dir und deiner Mutter angetan haben. Du wirst stärker sein als alle anderen. Und alle werden dich fürchten, und du kannst sie zerquetschen, wann und wie es dir beliebt.«
Fabio war hingerissen. Wie gern hätte er das geglaubt, aber es klang zu schön, um wahr zu sein. Und außerdem wusste
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