Drachensturm
aber es klang, als würde unter dem Brausen des Wasserfalls der Jubel seiner Gefährten erklingen.
Der Fluss hatte hier ein kleines, steiniges Tal ausgewaschen, das zur Zeit der Schneeschmelze unpassierbar gewesen wäre. Jetzt aber gab es einen schmalen Weg, dem Kemaq neugierig folgte. Das Tal weitete sich. Die Berghänge waren immer noch hoch, aber weniger steil. Wenn er die Männer nur hier heraufbekäme, könnten sie es schaffen. Und wie sollen die verwundeten und erschöpften Krieger den Wasserfall überwinden?, fragte er sich. Obwohl es ihm nun unsinnig erschien, folgte er dem Flusslauf noch ein Stückchen bergauf. Wenigstens bis zur nächsten Biegung, dachte er. Als er sie erreichte, sah er eine Frau am Flussufer sitzen. Es war Pitumi.
Sie nickte ihm lächelnd zu. » Ich grüße dich, Chaski. Ich habe dich bereits erwartet.«
» Wie … ich meine, woher …?«, stammelte Kemaq verwirrt.
» Woher? Natürlich aus Chan Chan. Ich konnte dort nicht bleiben, denn die Fremden haben die Stadt in Besitz genommen. Wie? Wir Chachapoya finden immer unseren Weg, das solltest du wissen.«
Kemaq starrte sie mit offenem Mund an. » Du hast gesagt, du hättest mich erwartet …«
» Dich oder einen anderen Überlebenden dieser sinnlosen Schlacht, Chaski. Es war zu erwarten, dass einige der Stimme des Flusses folgen würden. Dass du es bist, freut mich allerdings.«
» Viele sind wir nicht«, antwortete Kemaq langsam, » und nicht alle werden den Wasserfall überwinden können, Pitumi.«
» Ich habe ein Seil«, verkündete die Chachapoya gelassen.
Kemaq glotzte sie ungläubig an. Er öffnete den Mund, wusste aber nicht, was er sagen sollte, und schloss ihn wieder. Dann fragte er schließlich: » Du … du hast auch das vorhergesehen?«
» Wir haben doch schon in der Stadt über diesen Weg gesprochen, Chaski. Und du hattest Recht, es ist kein Weg, den ein Mensch gehen kann – es sei denn, er kann sehr gut klettern – oder er hat ein Seil.«
Kemaq starrte auf das zusammengerollte Seil, das neben der Heilerin lag. Die Sache war ihm nicht geheuer. Er erinnerte sich daran, dass die Menschen in Chan Chan Pitumi mit Achtung, aber auch mit Furcht begegnet waren. Er verstand jetzt, warum das so war.
» Willst du es, oder willst du es nicht, Chaski?«
» Das Seil? Doch, natürlich, ich verstehe nur nicht, warum du hier oben und nicht weiter unten am Wasserfall wartest, Pitumi.«
Sie lächelte kühl, als sie antwortete: » Du kannst es eine Prüfung nennen. Nur wer die Stimme des Flusses hören kann, findet einen Weg hier herauf, oder glaubst du, du wärst von allein auf den Gedanken gekommen, den Wasserfall hinaufzuklettern?«
Kemaq verstummte. Der Fluss sollte ihm das eingeflüstert haben?
Pitumi erhob sich und reichte ihm das Seil. » Du bist voller Zweifel, weil das Sonnenvolk dir eingeredet hat, dass nur die Stimme Intis zählt. Ich sehe dir jedoch an, dass deine Ohren noch nicht völlig taub sind, und ich halte es für möglich, dass auch die Regenschlange zu dir spricht.«
» Tamachoc?«, fragte Kemaq, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die dunklen Augen der Chachapoya schienen tief in ihn hineinzusehen. Eine ganz unvernünftige Angst stieg in ihm auf, aber dann lächelte Pitumi und drückte ihm das Seil in die Hand. » Willst du mich den ganzen Tag anglotzen oder nicht doch lieber deinen Gefährten helfen?«
Kemaq murmelte verlegen eine Entschuldigung. Er hatte plötzlich tausend Fragen, aber er stammelte nur: » Hilfst du mir? Ich meine, am Wasserfall, mit dem Seil.«
» Ich glaube, ich habe dir schon genug geholfen. Nun geh.«
» Wartest du auf uns? Wir haben einige Verwundete.«
» Vielleicht«, lautete die Antwort, aber für Kemaq klang es wie ein Nein.
Ruiz erschien keuchend auf der Plattform der Tempelpyramide. » Verzeiht, dass ich Euch störe, Condesa, aber der Hochmeister wünscht Euch zu sprechen«, meldete er, als er wieder zu Atem gekommen war.
» Im Palast?«, fragte Mila zurück.
Sie hörte, dass Ruiz sich am Kopf kratzte. » Das weiß ich nicht genau, Condesa. Ruf sie, hieß es, also bin ich diesen endlos langen Weg hier heraufgekommen. Und mir graut davor, dass ich ihn wieder hinuntergehen muss.«
» Du kannst mit uns fliegen, Ruiz«, bot Mila an. Solange Felipe gelebt hatte, hatte sein Freund kaum den Mund aufbekommen, aber offenbar ging es mit dem Reden doch, wenn es sein musste.
» Das ist sehr freundlich von Euch, Condesa. In der Tat erscheint mir Fliegen viel besser als
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