Drachensturm
verstehen. Die Spanier würfelten offenbar um Gold, das sie noch gar nicht hatten, und so erfuhr sie die Antwort des Tresslers nicht. Aber sie hatte genug gehört, um sich Gedanken zu machen. Ihr Onkel plante seine Nachfolge. Sie hatte immer angenommen, dass das etwas war, was in ferner Zukunft lag, doch es klang so, als würde er schon bald zurücktreten wollen. Der Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Dann riefen die Priester zum Abendgebet, und das war ihr ausnahmsweise eine willkommene Ablenkung. So betete sie mit Priestern, Konquistadoren und Rittern um den Schutz der göttlichen Vorsehung für den kommenden Tag, an dem man endlich dem Fürsten der Inka begegnen würde.
21 . Tag
Die Sonne schickte sich an, den Himmel zu betreten, und zartes Rot zeigte sich über den hohen Bergen im Osten. Wenn er hinabblickte, sah er die weißen Zelte von Atahualpas Heer, die sich über den Hang bis zu den heißen Quellen hinzogen. Kemaq fror. Er war schon vor Tagesanbruch aus dem Zelt getreten, weil die Kälte auch unter seine Decke gekrochen war, und war auf einen Hügel gestiegen, um warm zu werden. Die Zelte waren nicht zu zählen, und Kemaq hatte immer noch nicht die geringste Vorstellung, wie viele Krieger der Sapay Inka hier zusammengezogen hatte. Es waren Chimú, Yunga, Huanca, Marachuna, Chanca, Cuismanco und Männer noch vieler anderer Stämme, deren Namen Kemaq noch nie zuvor gehört hatte.
Über der weiten Ebene von Caxamalca lagen Dunstschleier. Ausgedehnte Felder erstreckten sich dort, geteilt durch den Fluss. Kemaq konnte die Fruchtbarkeit des Bodens beinahe schmecken, aber die Felder lagen verlassen, und kein Mensch kümmerte sich um die Feldfrüchte, die dort heranwuchsen. Auch die Stadt Caxamalca, die weiß und schön am Fuß der Berge lag, war menschenleer. Er konnte den riesigen Platz in der Mitte der Stadt sehen – er war viel, viel größer als der von Tikalaq. Kemaq wandte sich nach Süden. Im Nebel war Bewegung, noch weit entfernt, aber doch sichtbar: Menschen, die über die Straße nach Caxamalca zogen. Es war eine sehr kleine Abteilung, sicher nicht die erwartete Verstärkung aus Cuzco. Aber die Fremden konnten es doch auch nicht sein, denn die würden erst am späten Nachmittag eintreffen. Atahualpa hatte Boten ausgesandt, die sie begleiten und beobachten sollten. Demzufolge, was er gehört hatte, waren die Fremden gestern noch weit entfernt gewesen. Kemaq blickte angestrengt hinunter in die Dunstschleier. Dort wehten große Fahnen. Kemaq kniff die Augen zusammen – es waren die Fremden! Plötzlich hörte er die Muschelhörner der Wachen. Aus einer Dunstwolke tauchten fünf Schatten mit mächtigen Schwingen auf, zogen in tiefem Flug über das Lager, und als sie über den Quellen waren, ließen sie ihr markerschütterndes Brüllen hören.
Unten im Lager stürzten die Krieger aus ihren Zelten, und ihre Hauptleute riefen ihnen Anweisungen zu. Kemaq sah gebannt zu, und er empfand Stolz und Bewunderung, denn obwohl über den Häuptern dieser Männer Wesen kreisten, die furchtbarer waren als jeder Feind, dem sie je zuvor gegenübergestanden hatten, bewahrten sie Ruhe und Ordnung. Und die Ankay Yayakuna kreisten nur hoch über ihnen, sie griffen nicht an, und sie spien kein Feuer. Offenbar waren die Fremden wirklich gewillt, die Einladung Atahualpas anzunehmen. Man würde verhandeln, nicht kämpfen. Kemaq seufzte. Melap hatte ihm mehrfach vorausgesagt, dass es Kämpfe und viele Tote geben würde, aber er hoffte, dass der Alte sich geirrt hatte. Er lief den Hügel hinab zum Lager. Noch einmal sah er hinüber zur Straße. Unter den Fremden waren Yunga und andere Einheimische, leicht an ihrer bunten Kleidung zu erkennen. Alles in allem konnten das dort drüben nicht mehr als vielleicht zweihundert Männer sein, viele in ihren silbernen Rüstungen, einige von ihnen auf den vierbeinigen Wesen, fünf in der Luft auf den Ankay Yayakuna. Er starrte hinauf, aber er konnte nicht sicher erkennen, ob einer der Reiter langes goldenes Haar hatte.
Die Hörner des Lagers klangen dünn hinauf in die Luft. Der Hochmeister rief herüber: » Es ist genug, wir kehren zurück.«
» Wurde auch Zeit«, meinte Nabu keuchend und drehte ab.
» Alles in Ordnung?«, fragte Mila besorgt.
» Nein, Prinzessin«, lautete die knappe Antwort, und dann, als er wieder zu Atem gekommen war, fuhr der Drache fort: » Du solltet endlich begreifen, wie schwierig das ist. Die Luft ist so dünn. Vor allem morgens. Kein Aufwind.«
» Es tut mir
Weitere Kostenlose Bücher