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Drachensturm

Titel: Drachensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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sicher war, dass der Gott fort war, kroch Kemaq aus seinem Versteck. Warum war er nicht getötet worden, wo doch hier vier andere Chaski lagen, die die Götter nicht verschont hatten? Seine Augen suchten den Himmel ab. Weit entfernt, vor den Bergen, sah er einen schwarzen Punkt, und als er sich umwandte, sah er dort, wo die Stadt liegen musste, weitere Punkte in der Luft. Er konnte nicht warten, bis es dunkel wurde, unter gar keinen Umständen. Er lief weiter. Dieser Drachen hatte ihn nicht getötet, der auf dem Tempel des Mondes ebenfalls nicht. War es derselbe gewesen? Kemaq hatte außer dem Schatten nichts von ihm gesehen. Er lief etwas schneller, denn er hatte Zeit verloren, und wenn die fliegenden Götter sich auch entschieden haben mochten, ihn zu verschonen, so würde der Hohepriester sicher weniger großzügig sein, sollte er Tikalaq erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.
    Er lief, aber der Zauber des Laufens wirkte nicht mehr. Wie lange hatte er den Schatten an seiner Seite gesehen und, in Gedanken versunken, die Gefahr nicht erkannt? Das sollte ihm nicht noch einmal widerfahren. Er versuchte, die richtige Geschwindigkeit zu finden, aber sein Blick wanderte immer wieder zum Himmel, denn er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Götter ihn prüften. Vielleicht spielten sie auch mit ihm, wie der Jaguar mit seiner Beute. Der Gedanke war entmutigend. Er war schnell, aber die Ankay Yayakuna flogen viel schneller, als er laufen konnte. Warum hatten sie ihn verschont? Er fand einfach keine Antwort auf die Frage. Diese Gedanken und die ständigen Blicke über die Schulter machten das Laufen zur Quälerei, und war es ihm vorhin noch erschienen, als würden die Berge geradezu heranfliegen, so schienen sie jetzt in schier unerreichbarer Ferne bleiben zu wollen. Er biss die Zähne zusammen und lief. Die Wüste … wenn er die Wüste erst einmal hinter sich hatte, würde es besser werden. Der Weg mochte dann beschwerlicher sein, doch er war ein Kind der Berge, ein Steinmann, zwischen Felsen würde er sich sicherer fühlen. Kemaq lief und lief, und nach einer Weile waren die Hänge der Anden doch näher herangerückt. Bald darauf sah er das erste unzerstörte Chaskiwasi, das am Fuß der Berge auf ihn wartete.
    » Es ist der Marachuna!«, hörte er schon von weitem die Stimme des wachhabenden Chaski rufen. Nun traten die anderen Läufer aus der Hütte hervor. Einer brachte den Wasserkrug mit, ein anderer etwas zu essen. Kemaq verlangsamte seinen Lauf ganz allmählich, und er blieb stehen, als er bei ihnen war. Noch immer gab ihm Pitumis Kuka-Brei Kraft. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Krug.
    » Ich hätte nicht geglaubt, dass du wiederkehrst, Chaski«, sagte einer der Läufer.
    » Ich war unten am nächsten Botenhaus«, sagte der Wachhabende. » Sind die anderen ebenfalls niedergebrannt worden?«
    » Und was kannst du aus Chan Chan melden? Gibt es eine Botschaft, die wir weitertragen können?«, fragte ein dritter.
    Kemaq zog kurz in Erwägung, der Läuferkette eine Botschaft für den Hohepriester aufzugeben, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Der Hohepriester hatte es ihm verboten. Er musste diese Aufgabe allein bewältigen. Also sagte er nur: » Der Feind hat die Stadt besetzt, und ich muss weiter.«
    Und schon war er wieder auf dem Weg. Die Muskeln durften nicht kalt werden. Das Gelände wurde nun steiler, der Weg schmaler. Als er den ersten Hang hinaufkeuchte, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Tikalaq war eigentlich nicht seine Heimat. Er war dort geboren, aber nur, weil der Sapay Inka in seiner Weisheit beschlossen hatte, dass die meisten vom Steinvolk die alte Heimat verlassen sollten. Er sprang über einen Spalt und fragte sich, ob er auf dem Hinweg auch schon dort gewesen war. Erinnern konnte er sich nicht. Er versuchte, den Gedanken an die Heimat seiner Väter, die er noch nie gesehen hatte, zu verdrängen, aber er hielt sich hartnäckig. Als er die erste Hängebrücke überquerte, fragte er sich, ob dieser Gedanke ihn verfolgte, weil die Chachapoya etwas in dieser Richtung gesagt hatte. Sie hatte behauptet, dass dem Reich des Sonnenvolkes ein nahes Ende bestimmt sei, was Kemaq immer noch nicht glauben wollte. Genauso gut hätte sie sagen können, dass die Anden verschwinden würden. Und sie hatte außerdem gesagt, dass sie dann vielleicht einen Weg zurück in die Berge ihres Volkes finden würde. Er verfluchte sein gutes Gedächtnis, denn er konnte ihre Worte einfach nicht vergessen, und aus

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