Drachensturm
aus wie eine riesige Schlange. Erst auf den zweiten Blick erkannte Kemaq, dass es der Schwanz eines Drachen sein musste. Er erklärte es seinem Bruder. Die Männer hörten es und starrten lange hinauf, aber dann gab Jatunaq Kemaq einen Stoß, und sie huschten doch hinüber. Zwei Krieger folgten ihnen, dann noch einer. Plötzlich rieselten Lehmbrocken von oben herunter, und die Krieger auf der anderen Seite der Gasse zogen sich rasch wieder in die Schatten zurück. Kemaq blickte nach oben: Ein Flügel verdunkelte den Himmel, dann erschien ein gewaltiger Kopf. Die Männer pressten sich schweigend an die Wand. Sollte der Gott seinen Blick vom Himmel lösen und nach unten schauen, wären sie verloren. Der Gott verharrte eine Weile. Es sah aus, als würde er die Sterne betrachten oder vielleicht auch auf den Gesang der Zikaden lauschen, dann senkte sich der Kopf langsam auf den Rand der hohen Wand und blieb dort liegen.
Kemaq wagte kaum zu atmen, die anderen verharrten ebenso bewegungslos. Der Gott rührte sich nicht. Schließlich hörte Kemaq einen gepressten Atemzug seines Bruders, der ihn dann anstieß. Im tiefen Schatten des Gebäudes konnte er das Gesicht Jatunaqs nicht erkennen, aber dann bemerkte er, dass sein älterer Bruder sich anschickte, vorsichtig, ganz vorsichtig, die Mauer zu erklettern. Kemaq blickte zurück. Die anderen Krieger würden nicht über die Gasse kommen können, denn jede Bewegung konnte die Aufmerksamkeit des fremden Gottes erregen. Also waren sie nur zu fünft. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn er seinem Bruder den Weg gezeigt hatte. Er hatte angenommen, er würde irgendwo versteckt warten, bis die Krieger siegreich zurückkehrten. Doch jetzt musste er mit.
Auch die anderen begannen nun, die Wand emporzuklettern. Kemaq spürte die Muster in der Wand. Langsam, ganz langsam, schob er sich hinauf, ängstlich darauf bedacht, auf keinen Fall irgendein Geräusch zu verursachen. Dann hörte er doch hier und da ein leises Rieseln, ein paar kleine Lehmbrocken, die dem Gewicht der Kletternden nicht standgehalten hatten und zur Erde hinabfielen.
Wären die Zikaden nicht gewesen, wäre es niemals gut gegangen. Sie schienen irgendwo im Mauerwerk zu sitzen, und fast war es, als wollten sie sie mit ihrem Gesang beschützen. Kemaq überwand das unterste Stockwerk. Die Fenster lagen noch ein gutes Stück höher. Plötzlich hörten sie Stimmen. Zwei Männer kamen die Gasse vom Platz entlang. Sie unterhielten sich leise. Kemaq erstarrte, und auch die Krieger verharrten, wo sie gerade waren, als wären sie mit den Ziegeln verschmolzen. Einer der beiden Fremden trug eine halb niedergebrannte Fackel. Ihr Licht flackerte unruhig, und die Zikaden verstummten für einen Augenblick. Die Männer schienen es nicht besonders eilig zu haben. Sie unterhielten sich halblaut und kamen langsam näher. Kemaq spürte, dass sich seine Finger verkrampften. Er wusste, er durfte sich um keinen Preis bewegen, ja, er hörte sogar auf zu atmen. Die beiden Fremden schlenderten gemächlich vorüber. Ihre Waffen glänzten böse im Licht ihrer Fackel. Endlich verschwanden sie um die nächste Ecke. Kemaq blickte auf. Der Kopf des Ankay Yaya ragte immer noch über das Dach hinaus. Schlief er? Schliefen Götter überhaupt?
Zum Fenster war es nicht mehr weit. Kemaq zog sich vorsichtig nach oben. Dann fasste seine Hand über den Sims. Er lauschte. Im Inneren des Palastes wurde gestritten, doch klangen die Stimmen von weit heran, und der Raum hinter dem Fenster lag in Dunkelheit. Eine Berührung am Arm machte ihm klar, dass er weitermusste. Einer der Krieger hatte sich zu ihm herübergehangelt. Kemaq griff nach dem Sims, blickte in die Schwärze einer stillen Kammer und kletterte schließlich leise hinein. Ein schmaler Lichtstreifen zeigte ihm den Eingang, der offenbar mit einem Stück Stoff verhängt war. Hinter ihm landete lautlos einer von Jatunaqs Männern auf dem Lehmboden, dann noch einer. Sein Bruder hatte jedoch das benachbarte Fenster und damit die benachbarte Kammer gewählt. Sie waren durch eine dicke Wand getrennt. Kemaq hörte die streitenden Stimmen der Fremden. Sie waren nicht allzu weit entfernt.
Don Mancebo gab einen längeren Bericht, den er mit der Meldung eröffnete, dass die Flotte wohl schon am nächsten Tag eintreffen würde. Das sorgte zunächst für Erleichterung, aber dann forderte Ritter Balian plötzlich, dass der Orden bis dahin für klare Verhältnisse in der Stadt sorgen
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