Drachentau
Fluchtwege geplant, Verstecke gesucht, möglichst nicht mehr als zehn Mann in einem. Rudi, der beste Zimmermann des Dorfes, begann mit dem Bau eines kleinen, gut versteckten Geheges für Hühner und Schafe. Im Übrigen brauchten Bären nicht viel, um zufrieden zu sein. Das Wichtigste, ihren Pelz, trugen sie ohnehin am Leib und Honig ließ sich fast überall finden. Auch das trug erheblich dazu bei, dass sie am Abend mit dem größten Teil der Arbeit fertig waren.
Bodo ging von Hütte zu Hütte, half, beriet, beruhigte und lobte die gute Planung, wann immer er konnte. Hin und wieder hatte er etwas Mühe, einzelne Bären davon zu überzeugen, ihren Fluchtweg nach hinten aus der Hütte heraus zu planen und nicht nach vorne über den Mittelweg direkt in den Wald zu laufen, auch wenn es da am schnellsten ging. Dank guter Argumente zeigten sich am Ende alle einsichtig. Sie nahmen die Arbeiten gerne auf sich, denn das rege Treiben und Überlegen ließ ihnen keine Zeit, über den Drachen und die bevorstehende Gefahr nachzudenken.
Am Abend, als alle in ihren Hütten vor dem Kamin saßen, wurde der Drache in den Köpfen wieder größer und die sonst mutigen Bärenherzen schlugen schneller. Warten ist geschenkte Zeit für Ruhe und Gemütlichkeit, so pflegte man zu sagen. Aber warten, ob man Opfer eines Drachen wird oder nicht, ist, als wäre man im Ozean auf einem winzigen Baumstamm treibend von Haien umzingelt und hoffte, man würde nicht gefressen.
Jakob, Rosa, Bodo und Emilia saßen in Jakobs Hütte zusammen, hielten eine Tasse mit heißem Tee in den Händen, und schauten dem Kaminfeuer zu, wie es die Holzscheite verzehrte. Sie verweilten in einträchtigem Schweigen. Obwohl die Gedankenmühle sich unaufhörlich im Kopf drehte, fand niemand Worte für die Angst, die sich immer mehr ausbreitete. Wohl aber für den festen Willen, das Dorf nicht zu verlassen. Müde vom Tag, müde von der Erwartung auf die kommende Nacht, waren sie froh, heute Abend nicht allein zu sein.
Die Sonne neigte sich zum Westen und färbte den Himmel mit einem rötlichen Schimmer. Die erste Wache an der Glocke hatte Edmund. Bodo hätte es auch getan, aber er wurde bei der Fluchtorganisation dringender gebraucht. Emilia hatte gehofft, ein paar Worte mit Jakob unter vier Augen wechseln zu können, um ihn nach Eschagunde zu fragen. Aber so war es ihr auch recht. Ihre Fragen konnten bis morgen warten, heute hatten sie schon viel gesagt. Jakobs Anwesenheit wirkte beruhigend auf sie. Er wusste meistens, was zu tun ist, wenn er auch selten viel sprach.
Fast sah es gemütlich aus, wie die Vier so am Kaminfeuer saßen. Hätte man nicht gewusst, dass der eigenbrötlerische Jakob am Abend lieber allein war oder mit Rosa Schach spielte, man hätte es für einen ganz normalen Abend halten können. Obwohl die Ankündigung des Drachens nicht einmal fünfzehn Stunden zurücklag, kam es allen so vor, als lebten sie schon immer so. Und in gewisser Weise taten sie das ja auch.
Endlich brach Emilia das Schweigen. »Du hast den Drachen auch gesehen, Rosa?«
Rosa war überrascht, darauf angesprochen zu werden. »Ja, habe ich«, antwortete sie kurz.
»Bist du nicht erschrocken? Er ist riesig. Ich habe ihn ein einziges Mal gesehen und seinen Anblick nie mehr vergessen.«
»Doch, ich bin sehr erschrocken. Aber ... ich weiß nicht ... irgendwie auch nicht.« Sie rührte ihren Tee.
»Ich habe den Drachen noch nie gesehen. Wie meinst du das, Rosa, irgendwie auch nicht?«, wollte Bodo jetzt wissen.
»Ich kann es nicht sagen, er sieht eben auch sehr prachtvoll aus. Voller Edelsteine, fast wie ein fliegender Schatz. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er wirklich so schrecklich ist.«
»Das ist er aber, Kind«, sagte Emilia sanft, die die Verwirrung in Rosa spürte. »Vor allem musst du dich vor seinem Blick hüten.«
»Das weiß ich. Großvater hat es mir gesagt. Wann soll ich einem Drachen schon in die Augen blicken?«
Jakob zog die Stirn kraus. »Dann, wenn er es will.«
Rosa starrte auf den kleinen Strudel, den das Rühren in ihrem Tee verursachte.
»Hat er dich auch gesehen?«, fragte Emilia weiter.
Alle Augen waren auf Rosa gerichtet. Sie dachte daran, wie er zu ihr geschaut hatte, wie sich ihre Blicke um ein Haar getroffen hätten. »Nein, ich glaube nicht. Großvater hat mich sofort ins Haus geholt.«
Emilia atmete auf. »Dann ist es gut.«
Aber Jakob blieb skeptisch. Bodo fragte sich, warum es so wichtig war, dass der Drache sie nicht sah. Vielleicht,
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