Drachentempel 01 - Sternenträume
türkisfarbenen Himmel hinauf, und die Fältchen um ihre Augen vertieften sich in einem Ausbruch bitteren Grolls, der in seltsamem Kontrast zu ihrer vornehmen Erscheinung stand.
»Verzeihung«, sagte Denise hastig. Mrs. Potchansky hatte bei der letzten Invasion ihren Sohn verloren. Sie wusste kaum mehr als das Datum.
»Es ist schon gut, meine Liebe. Ich versuche immer zu sehen, wie wir heute leben. Es ist ein gutes Leben, das wir hier führen, besser als auf allen anderen besiedelten Welten. Das ist unsere Rache an ihnen. Sie können unsere Natur nicht zerstören, und sie brauchen uns so, wie wir sind. Ich genieße die Ironie.«
In Augenblicken wie diesem hätte Denise am liebsten alles herausgeplappert, hätte der wunderbaren alten Dame am liebsten von all dem Hass und all den Plänen erzählt, die sie und die anderen mit nach Memu Bay gebracht hatten. Stattdessen umarmte sie Mrs. Potchansky herzlich. »Sie werden uns nicht schlagen. Niemals, das verspreche ich Ihnen.«
Mrs. Potchansky tätschelte Denises Rücken. »Danke, Liebes. Ich bin ja so froh, dass Sie den Weg zu unserer Schule gefunden haben.«
Wie üblich wurden einige der Kinder erst spät abgeholt. Der alte Mr. Anders kam, um seinen Enkel mitzunehmen. Francine Hazledine, die fünfzehnjährige Tochter des Bürgermeisters, sammelte ihre kleine Schwester ein, und beide lachten glücklich bei ihrem Wiedersehen. Peter Crowther winkte seinen Sohn nervös in eine große Limousine. Denise kümmerte sich im Klassenzimmer um die übrigen Kinder und gab ihnen große Media Pads, auf denen sie mit den Fingern malen konnten, während sie warteten.
Als das letzte Kind gegangen war, brauchte sie eine Viertelstunde, um alles für den nächsten Tag vorzubereiten. Sie löschte die psychedelischen Muster von den Media Pads, sortierte Spielsachen in die richtigen Kisten, stellte die Stühle zurück an die Tische und pumpte neue Luft in die undichte Jelfoam-Matratze, die Einzige, die es im Haus gab. Mrs. Potchansky kam herein, bevor sie alles Geschirr und Besteck in die Spülmaschine geräumt hatte, und sagte, dass sie den Rest erledigen würde. Denise sollte in die Stadt gehen und den schönen Tag genießen. Die alte Lady hatte noch nicht gefragt, ob Denise endlich einen Freund gefunden hatte, doch es würde nicht mehr lange dauern – die Frage kam alle drei Wochen aufs Neue, zusammen mit hilfreich gemeinten Ratschlägen, wo nette junge Männer zu finden wären. Denise geriet jedes Mal in Verlegenheit und hatte Mühe, Mrs. Potchansky von diesem Thema abzulenken. Manchmal fühlte sie sich, als wäre sie noch zu Hause und müsste sich vor ihrer Mutter rechtfertigen.
Die Schule lag ein paar Kilometer landeinwärts, daher war der Weg hinunter in die Marina leicht. An verregneten Tagen nahm sie die Trams, die auf den größeren Boulevards verkehrten, doch an diesem Nachmittag schien die Sonne immer noch von einem wolkenlosen Himmel herab. Denise wanderte den Bürgersteig entlang und achtete darauf, unter den weit ausladenden Vordächern der Geschäfte zu bleiben. Sie trug nur ein dünnes Kleid, und die Sonne war um halb vier nachmittags immer noch stark genug, um gefährlich zu werden. Der Weg war einigermaßen vertraut, und sie traf unterwegs mehrere Bekannte, die sie mit freundlichem Kopfnicken grüßte. Es war so anders als an ihren ersten Tagen in der Stadt, als sie jedes Mal zusammengezuckt war, wenn ein Wagen mit quietschenden Bremsen anhielt, und als sie beim Anblick von mehr als fünf Menschen auf einem Haufen klaustrophobische Zustände bekommen hatte. Sie hatte mehr als zwei Wochen benötigt, nur um sich daran zu gewöhnen, mit Freunden in einem der zahlreichen Cafes oder Restaurants von Memu Bay zu sitzen.
Selbst jetzt noch hatte sie sich nicht an den Anblick von Dreiecksbeziehungen auf der Straße gewöhnt, auch wenn sie sich bemühte, die Leute nicht offen anzustarren. Memu Bay war stolz auf seine liberale Tradition, die bis 2160 zurückreichte, das Jahr der Gründung. Die Stadtväter waren von der überbevölkerten Erde weggegangen, wo sie sich in ihrer persönlichen Freiheit unerträglich beschnitten gesehen hatten, fest entschlossen, auf ihrer neuen Welt eine entspanntere, aufgeklärtere Gesellschaft zu errichten. In den Anfangstagen hatten die Menschen in Kommunen zusammengelebt, gebildet aus den Belegschaften der jeweiligen industriellen Unternehmungen. Nach und nach war dieser sanfte Radikalismus von der Wirklichkeit ausgehöhlt und waren
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