Drachenwächter - Die Prophezeiung
wenn auch ein kranker Mann. Niemals hatte er Seld bei seinen Vorstößen unterstützt, vor dem Herrscher für das Nordostland einzustehen, hatte immerzu gebuckelt.
»Wir waren in Nidbal«, begann Seld. »Dort haben wir einen alten Mann gefunden.«
»Den verrückten Alur? Er hat euch hoffentlich nicht belästigt.«
»Wie konntet ihr einen alten Mann allein in dem Dorf zurücklassen? Er wäre verhungert!«
Flelar stemmte sich auf seine Ellenbogen. »Das war unsere Absicht. Alur wurde mit jedem Tag seines Lebens verwirrter, redete unentwegt von den Drachen, die er in seinen Träumen sah. Wir alle haben Angst und fragen uns, warum die Drachen weggegangen sind und was wir nun tun sollen. Wir sind auf der Flucht, und einen alten Mann, der uns mit seinem Wahnsinn ansteckt, konnten wir nicht gebrauchen. Und nun lass mich schlafen. Wir wollen in aller Frühe weiterziehen.« Flelar drehte sich auf die Seite.
Seld machte einen wütenden Schritt nach vorne, griff den Mann auf dem Kutschbock mit beiden Händen am Kragen und zog ihn von dem Wagen herunter. Flelar entfuhr ein ersticktes Stöhnen, als er mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Aus seinen Augenwinkeln heraus sah Seld, wie einige Nidbaler herankamen, aber sie machten keinen Anstalten, ihn von Flelar wegzudrängen.
Mit der linken Hand hielt Seld das Kinn des Mannes fest, den er mit seinem Körpergewicht auf den Boden drückte. »Du bist Abschaum, Flelar«, sagte er so laut, dass es auch die Umstehenden vernahmen. »Es ist eine Schande für einen Vorsteher, einen seiner Schutzbefohlenen dem Tode zu überlassen. Du verstehst nicht, was Alur plagt und was er dir sagen möchte. Man sollte dich an einen Baum fesseln und als einzige Seele der Kälte des Nordostlandes überlassen.« Mit einer unwirschen Bewegung ließ er Flelars Gesicht los und stellte sich auf.
In den Augen des Mannes unter ihm spiegelte sich die Angst, nun könnten Schläge und Tritte auf ihn niederprasseln.
Doch Seld überließ den Vorsteher dem Urteil der Nidbaler.
Schließlich kam Seld in der westlichen Siedlung zum Haus von Jer Wocham. Es war ein unauffälliges, flaches Gebäude, das von außen nicht den Anschein erweckte, dass darin die Vorsteherin der Drei Dörfer lebte. Die Tür stand eine Handbreit offen, und Seld ging hinein.
Drückende Hitze empfing ihn, und er sah sich den dunklen Blicken einiger Männer ausgesetzt, die sich unter der niedrigen Decke um einen Tisch drängten. Einer von ihnen sprang auf und zog ein Schwert. »Wer bist du!«, brüllte er.
Seld hob beschwichtigend die Hände. »Mein Name ist Seld Esan. Ich komme aus Hequis und möchte zur Vorsteherin.«
Der andere sah, dass Seld keine Waffe trug. »Du bist bei ihr.« Mit der Schwertspitze deutete er auf den Tisch, und langsam schritt Seld an dem Mann vorüber, schaute in die Richtung, in die das Schwert zeigte.
Eine blutüberströmte Frau lag auf der Tischplatte, von einem Schwert aufgespießt, dessen Spitze durch sie und den Tisch gedrungen war und auf den Steinboden zeigte. Die Männer hatten Holzteller mit gegrilltem Fleisch, frisches Obst und Krüge mit Met um die Tote gestellt – Seld hatte sie beim Essen überrascht. Der Mann, der ihm entgegengetreten war, steckte sein Schwert wieder ein und ließ sich an seinem Platz nieder. Schweigend aßen die Männer weiter und schenkten Seld keine Aufmerksamkeit mehr.
Es war Jer Wocham, die tot vor Seld auf dem Tisch lag. Ihr Blut war noch nicht getrocknet. »Wer seid ihr?«, fragte er.
Die Männer ließen sich Zeit, ihm zu antworten. »Die neuen Herren der Drei Dörfer«, gab dann einer von ihnen zurück.
»Ihr habt die Vorsteherin getötet.« Seld stellte es mit tonloser Stimme fest. Er konnte den Blick nicht von dem Leichnam abwenden. »Warum habt ihr das getan?«
»Wir herrschen nun«, sagte der Mann mit dem Schwert.
»Herrschen? Wie könnt ihr –«
»Wage nicht, unseren Anspruch in Frage zu stellen. Der Herrscher von Derod wird uns anerkennen.«
Eine kalte Erkenntnis kroch in Selds Gedanken: In den Drei Dörfern konnte es schon in den nächsten Stunden zu einem Blutbad kommen, sobald sich die Nachricht vom Mord an der Vorsteherin verbreitet hatte. Die Hequiser mussten noch in dieser Nacht wieder ihren Weg aufnehmen.
Die Männer schlangen ihre Mahlzeiten in sich hinein. Einer von ihnen, ein bärtiger, vierschrötiger Kerl, tunkte ein Stück Brot in eine Pfütze des noch nicht getrockneten Blutes und schob das Brot in seinen Mund, wobei er Seld durchdringend
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