Drachenwächter - Die Prophezeiung
mit eigenen Augen sahen – auch die Weite des Meeres hatten sie noch nie erblickt. Trotz des Trubels, der sie umgab, sank eine tiefe Stille über die Kolonne.
Nachdem die Hequiser ihr Lager errichtet hatten, gingen Seld und Ark in Richtung des Südtores. Ihre Stiefel erzeugten schmatzende Geräusche in dem Matsch unter ihnen. Unzählige Füße und Wagenräder hatten den Boden aufgewühlt, und der Regen hatte ihn schlammig werden lassen.
Die Wachsoldaten waren direkt vor dem verschlossenen Südtor stationiert. Mit stoischer Ruhe standen sie in mehreren Reihen vor dem Tor, die Hellebarden in der rechten Hand. In den Pfützen um sie herum war Blut zu erkennen.
Als Seld und Ark sich dem Tor näherten, stellte sich ihnen ein grobschlächtiger Kerl in einer zerschlissenen Uniform in den Weg. »Klüch nimmt keine Flüchtlinge mehr auf!«, schrie er den beiden ins Gesicht.
»Mein Name ist Seld Esan. Ich bin ...« Selds Stimme sank für einen Moment, er schluckte, dann sprach er weiter: »Ich bin Vorsteher von Hequis im Nordostland und muss mit dem Herrscher sprechen.«
Der Wächter runzelte die Stirn, ließ seinen Blick immer wieder über Seld und Ark streifen. Er ließ einen der Wächter in den Büchern nach sehen, wer der Vorsteher von Hequis war. »Nun denn«, sagte er schließ lich. »Verlasst die Stadt wieder vor Sonnenuntergang.« Er gab ein Zeichen, und von innen wurde ein schmaler Durchgang im Tor geöffnet.
Kaum war er in der Stadt, da erkannte Seld auch schon, dass Klüch zu bersten drohte. Was in den Drei Dörfern schon geschehen war, kam nun auch über Derods größte Stadt: Aus allen Landesteilen flohen die Menschen hierher, wahrscheinlich weil sie glaubten, hinter den wehrhaften Stadtmauern Schutz zu finden. So konnten nur Menschen denken, die noch niemals die Drachen mit eigenen Augen gesehen hatten und ihre Macht nur ahnen konnten, ging es Seld durch den Sinn. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen, und einige von ihnen schienen ihr gesamtes Hab und Gut mitgebracht zu haben – gerade so, als befürchteten sie, niemals wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Das einzige, was der Herrscher hatte tun können, war, die Stadt vor weiteren Flüchtlingen zu verschließen, die vor Drachen oder Dämonen Schutz suchten.
Wohin Seld und Ark auch blickten, patrouillierten Wachen in den Farben des Herrschers. Doch es gelang ihnen kaum, für Ruhe in der Stadt zu sorgen. Immer wieder kam es zu Kämpfen, bei denen nicht selten Tote zurückblieben. Am ersten Marktplatz, den Seld und Ark erreichten, baumelten leblose Körper an einem Galgen.
Durch die Außenbezirke mit ihren Lagerplätzen und Gasthäusern gelangten die beiden zum Ufer des Heke. Im Hafen war kaum noch ein Anlegeplatz frei, und die meisten Schiffe wurden eilig beladen, als wollten sie so bald wie möglich aus der Stadt segeln. Seld und Ark gingen über die Steinbrücke zur alten Stadt hinüber, die von den Resten der ersten Stadtmauer umsäumt war. Auf dieser Seite des Heke erhob sich eine Klippe. Während auf der Anhöhe die Villen standen, zwischen denen die Gelehrtenstätte aufragte, thronte der Palast über allem. Seine Mauern waren mit dem schwarzen Gestein der Nordberge errichtet worden, während die Kuppel in seiner Mitte, die feinen Türme und Verzierungen in hellem Marmor und Gold leuchteten.
Im Palast lebte der Herrscher mit seiner Familie und seinen Bediensteten. Vor Talut Bas hatte die Herut-Dynastie eine lange Zeit über Derod regiert – doch diesem Erbe hatte Talut ein Ende gesetzt, indem er von Jor Herut die Macht gestohlen hatte. Als vor vielen Jahreszeiten Klaf Herut verstorben war, hatte er seinem Sohn Jor ein zerstrittenes Land hinterlassen, das in viele sich gegenseitig bekämpfende Provinzen zerfallen war, außerdem eine Stadt Klüch, die von Räuberbanden beherrscht wurde, und einen Palast, der seinen Glanz und Ruhm verloren hatte.
Doch trotz seiner Fehler – oder gerade deswegen – war Klaf Herut beim Volk beliebt gewesen. Er war dafür bekannt, dem Frühlingswein zugeneigt zu sein und des Nachts die schönsten Frauen von Klüch in seinen Palast führen zu lassen.
Jor Herut war der einzige Sohn des alten Herrschers, und er fand beim Volk keinen Anklang. Der verschlossene, blasse Mann mied die Feierlichkeiten des Vaters und zog sich lieber in die Studierstuben zurück. Viele Klücher sahen ihn zum ersten Mal, als er mit dem königlichen Schiff auslief, um den Körper seines toten Vaters dem Meer zu übergeben.
Kaum
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